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Die Gaste, Ausgabe 6 / März-April 2009
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Biopiraterie in der Bildung
(Eðitimde Biyolojik Korsanlýk)
Prof. Dr. Armin BERNHARD
(Universität Duisburg-Essen)
Was geschieht mit Bildung in einer Gesellschaft, in der der Mensch zunehmend als Hu-manressource aufgefasst wird, die in wirtschaftlichen Reichtum umgesetzt werden soll? In der bestehenden Gesellschaft wächst der gesellschaftliche Druck auf eine Bildung, die in effizienterem Maße und in immer schnelleren Zyklen die gewünschten Subjektvermögen hervorbringen soll. Die Indizien der „Effizienzsteigerung“ von Bildung sind erdrückend: sogenannte Elite- und Hochbegabtenförderung („Exzellenzinitiative“), Vorschläge zur Einführung von „Bildungsstandards“ im Kindergarten, die Verkürzung von Schulzeiten, früher Einschulung, Überspringen von Klassen, Modularisierung und Bachelorisierung von Ausbildungsgängen, nicht zuletzt die Versuche der Privatisierung der Bildung durch Schaffung eines Bildungsmarktes für Bildungskonzerne (GATS) sprechen eine deutliche Sprache.
Rohstoff Mensch
Altbundeskanzler Helmut Kohl formulierte bereits in den 1980er Jahren: „Intelligente Kinder sind der wahre Rohstoff in einem rohstoffarmen Land.“ Die rot-grüne Bundesregierung stand dieser Aussage aus dem Kontext der schwarz-gelben Koalitionsregierung in nichts nach: „Die Kreativität und die Kompetenzen der Menschen“ hieß es in ihrem Geschäftsbericht 2002, „sind der wichtigste Rohstoff Deutschlands“ denn die “Innovationen von morgen fangen in den Köpfen der jungen Menschen von heute an.” (Schröder).
Eine noch weitergehende Aussage stammt aus dem Umfeld der von der Unternehmensberatung McKinsey & Company zwischen 2000 und 2002 veranstalteten „Bildungsinitiativen“. Auf einem Kongress dieser neoliberalen Denkfabrik äußert sich Wolf Lepenies, Soziologe an der FU und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, zum Thema Bildung. Diese dürfe nicht mehr wie bisher „nur als eine Sozialleistung, sondern (müsse) auch als eine wirtschaftliche Investition“ angesehen werden. Da „zwei Drittel des Humankapitals nicht an der Schule und an der Universität, sondern durch die Eltern und im Erwachsenenlernen gebildet werden“, müsse „dieser Form der Wertschöpfung ein angemessener Platz in unserer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ zugewiesen werden. M.a.W.: Auch die außerhalb der Bildungsinstitutionen ablaufenden Lernprozesse sollen wirtschaftlicher verfügbar gemacht werden. Denn die „Ausnutzung des Humankapitals“ ist in Deutschland Lepenies zufolge „suboptimal“. Auch die von der OECD in Auftrag gegebene PISA-Studie geht über diese Grundauffassung, nicht hinaus. Zwar untersucht die PISA-Studie nicht die formalen Schulabschlüsse und ihre Verteilung, sondern fragt, in welcher Qualität bestimmte Basiskompetenzen durch das Bildungswesen erzeugt werden. Doch bleibt auch sie auf das Ziel der Herstellung von Humankapital begrenzt, „das Interesse an Humankapital (wird lediglich, A.B.) ausgeweitet (…) auf Eigenschaften, die es den Menschen erlauben, ‘lebenslang Lernende’ zu werden” (OECD)
Das Arsenal von Wörtern, die mit Bildung in Zusammenhang gebracht werden, ist unmiss-verständlich: Bildung als Bearbeitung des „Rohstoffes Mensch“, Bildung als „Wertschöpfung“, Bildung als „wirtschaftliche Investition“, Bildung als „Humankapital“. Es gilt als selbstverständlich, dass Bildung nur noch der Qualifikation des Menschen für eine Gesellschaft dient, in der der Markt die entscheidenden Direktiven bestimmt. Bildung wird zur Ware.
Neoliberale Denkfabriken
Die Liberalisierung von Bildung im Sinne einer „Dienstleistung“ wird von einem Netzwerk von Organisationen, Forschungszentren und privaten Instituten vorangetrieben. Zu ihnen gehört die 1995 gegründete WTO, zuständig für die allgemeinen Regeln des Welthandels, allerdings dominiert von nordamerikanischen, europäischen und japanischen Unternehmen. Das für Bildung relevante Abkommen ist die GATS-Vereinbarung (General Agreement on Trade in Services). Worauf zielt GATS? Bislang noch ist zumindest die allgemeine Bildung zu einem großen Teil im Rahmen eines öffentlichen Bildungswesens organisiert, für dessen Verwaltung und Durchführung Staat und Gesellschaft zuständig sind. Vorbehalte der EU schützen derzeit noch das allgemeinbildende Schulwesen vor dem Zugriff privater Konzerne. Wenn diese Vorbehalte fallen, wird es einen „freien“ Marktzugang zu sämtlichen Bildungssektoren der Gesellschaft geben. Alle Bildungsbereiche von der Grundschule bis zur Erwachsenenbildung könnten dann der öffentlichen Kontrolle entrissen und privaten Bildungskonzernen überantwortet werden. Die Folge wäre eine noch stärkere Degradierung von Bildung zu einer Ware, die sich dann nur noch diejenigen leisten können, die die Herstellung dieser Ware bezahlen können. Die in diesem Land ohnehin schon skandalös ungleiche Verteilung von Bildung würde eine weitere Verschärfung erfahren. Bildung würde noch stärker als bisher auf den Aspekt der Ausbildung, also auf bloße berufliche Qualifikation reduziert. Die Folgen für eine demokratische Entwicklung der Gesellschaft wären unabsehbar: Denn eine allgemeine Bildung ist die Grundlage für individuelle und kollektive Mündigkeit und diese wiederum ein Grundbaustein wirklicher Demokratie. Wer diese allgemeine Bildung nicht erhalten, ja ausbauen kann, gefährdet die Basis für demokratisches Handeln und damit die einer zivilen Gesellschaft insgesamt.
Auch die OECD operiert in diesem Kontext. Die Ziele dieses „Klubs der Reichen“ (Chomsky) liegen in der Erarbeitung von Prinzipien einer optimalen Wirtschaftsentwicklung, der Förderung von Wirtschaftswachstum, der Steigerung des Welthandels. Mit ihren vergleichenden Bildungsstudien fördert die OECD die Untersuchung derjenigen subjektbezogenen Voraussetzungen und Kompetenzen, die als Humankapital diese ökonomischen Ziele fördern können: Humankapitalbildung als oberster Zweck! Die 1977 gegründete Bertelsmann-Stiftung und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) beschäftigen sich ebenfalls mit bildungs- und hochschulpolitischen Fragen, mit dem Ziel, eine Gesellschaftspolitik anzustoßen, die auf den Prinzipien unternehmerischen Handelns beruht. Besonders offensiv propagiert das Deutsche Büro der bereits genannten Unternehmensberatung McKinsey Vorschläge für die Verbesserung des deutschen Bildungswesens aus unternehmerischer Perspektive – in Kooperation mit prominenten Personen aus Medien, Kultur, Politik und Wissenschaft. Das sogenannte Manifest zur Bildung, das diese Organisation entwickelt hat, trägt alle Merkmale einer neoliberalen Funktionalisierung von Bildung: 1. Die Ausschöpfung der Begabungsreserven soll durch eine möglichst frühe Investition in kindliche Bildung optimiert werden. Der gegenwärtige Boom der „Frühpädagogik“ ist in diesem Zusammenhang um die Ausbeutung geistiger Humanressourcen zu sehen. 2. Flächendeckende Messungen von Schülerleistungen sollen ebenso zur Qualitätssicherung beitragen wie regelmäßige Schulinspektionen. 3. Es sollen mehr Freiräume für die einzelnen Bildungseinrichtungen geschaffen werden. Die „Überregulierung“ von Bildungsinstitutionen muss abgeschafft und durch mehr „Autonomie“ und Wettbewerb ersetzt werden. 4. Bildung darf nicht mehr primär als ein Mittel der Persönlichkeitsentwicklung und des Erwerbs von Mündigkeit angesehen, sondern muss als wirtschaftliche Investition begriffen werden.
Homo materia und Biopiraterie
Der Philosoph Günther Anders hat in einem anderen Zusammenhang den Begriff des homo materia, des „Stoffmenschen“ entwickelt, der das Menschenbild neoliberaler Bildungs-politik recht gut verdeutlicht. Homo materia meint eine Einstellung, die den Menschen als eine „wertvolle Rohstoffquelle“ auffasst. Rohstoffquelle ist der Mensch im Hinblick auf seine Organe, auf seine biophysische Ausstattung, aber auch im Hinblick auf das, was durch Bildung an verwertbaren Kompetenzen entwickelt werden kann. In unserem Fall bezieht sich der homo materia auf die Vorstellung, man könne den Rohstoff Mensch so formen, dass er für die wirtschaftlichen Prozesse optimal vernutzt werden kann. Die Bezeichnung „Ressource“ ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, denn sie meint nichts anderes als eine „natürliche“ Reichtumsquelle, in unserem Falle die Entwicklungskräfte des Menschen, die durch Bildung so bearbeitet werden sollen, dass wirtschaftlich kreative, innovative, und flexible Menschen durch sie produziert werden. Das Kind als Rohling ist diejenige Quelle, aus der, nach seiner schulischen Umarbeitung in Humankapital, verwertbare Innovationen entspringen sollen. Der Mensch ist ein Rohstofflager: Dies ist die Kernaussage des neoliberalen Menschenbildes. Es handelt sich um eine Biopiraterie der besonderen Form. Die mit dem Wort Biopiraterie bezeichnete Praxis von Konzernen, sich bestimmte genetische oder biologische Ressourcen in der „Dritten Welt“ patentieren, also das alleinige Recht zu deren Nutzung und Verwertung zusprechen zu lassen, während diejenigen lokalen Menschengruppen, die diese Reichtümer der Natur züchteten und pflegten, leer ausgehen, lässt sich auf den Bildungssektor übertragen. Biopiraterie ist ein gigantischer Diebstahl natürlicher Ressourcen. Ihr Ziel ist es, den dominanten Gesellschaftsgruppen den Zugriff auf die geistigen Humanressourcen langfristig zu sichern. Dass in diesem Kampf um die Bearbeitung und Nutzung der geistigen Rohstoffe der Mensch an der Ausbildung seiner „menschlichen Wesenskräfte“ (Marx) gehindert wird, ist offensichtlich: Der Mensch wird seiner eigenen Entwicklung beraubt.
Diesem Menschenbild entspricht ein neues Persönlichkeitsideal, eine neue Auffassung, wie der Mensch der Zukunft aussehen soll. Der neoliberale Mensch, das ist die mobile, flexible, wandlungsfähige, Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, die kreativ ist, Ideen produziert, inspiriert ist, ihr gesamtes Persönlichkeitsrepertoire in den Dienst des Unternehmens, der Firma, des Betriebs stellt, eine Persönlichkeit, die sich „autonom“ bewegt, allerdings nur in den Grenzen, die ihm vom System gesetzt sind. Der neoliberale Mensch ist der modularisierte Mensch. Es wird offensichtlich davon ausgegangen, dass sich der Mensch beliebig in unterschiedliche marktgerechte Module aufspalten lässt. Die eigene Persönlichkeit soll sich elastisch auf die Erfordernisse des Marktes einstellen. Der US-amerikanische Soziologe Richard Sennet hat dieses Menschenbild in seinem Buch „Corrosion of character“ analysiert: Leitbild des Neoliberalismus ist der sich flexibel an die räumlichen und zeitlichen Mobilitätserfordernisse des wirtschaftlichen Systems anschmiegende Mensch, ein Mensch, der nur flüchtige soziale Bindungen eingeht und dem moralische Kategorien weitgehend fremd sind.
Der „Preis“ der Biopiraterie
Der gesellschaftliche, volkswirtschaftliche und individuelle „Preis“ der Kommerzialisierung von Bildung ist bislang nicht kalkuliert worden, kein Wunder, ist doch der Blick getrübt von den vermeintlichen Segnungen eines völlig liberalisierten Marktes, dessen gewaltige Schattenseiten ignoriert werden müssen. Resümierend können wir sagen, dass diejenigen „Kosten“ nicht in die neoliberalen Vorstellungen eingehen, die als Folgewirkungen gründlich missglückter Bildung auf die Gesellschaft zurückschlagen werden. Die Kommerzialisierung der Bildung wird die ohnehin schon skandalöse Ungleichheit noch verschärfen und insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus unterprivilegierten sozialen Schichten massiv benachteiligen. Die Überschwemmung der Schulen mit Testierungs- und Evaluationsinstrumenten wird die Vielfältigkeit kindlicher Entwicklungsvermögen durch Standardisierung drastisch einengen. Gleichsam wird der für eine solidarische Gesellschaft zerstörerische Konkurrenzkampf an den Schulen zunehmen, weil die Ellbogenmentalität in einem neoliberalen Raubtierkapitalismus beständig belohnt wird.
Versuche der Ökonomisierung von Bildung blockieren damit aber Alternativen, die zur Bewältigung globaler Problemlagen, die zur Verarbeitung neuer Sozialisationsbedingungen und zur emanzipativen Selbstfindung von Kindern und Jugendlichen dringend benötigt werden. Den gesellschaftlichen Preis der Biopiraterie in der Bildung werden nicht die global player bezahlen, sondern diejenigen, denen die Rechte auf eigenständige Lebensgestaltung verweigert werden.
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