Die Gaste
ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
ISSN 2194-2668
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)


  • SONRAKÝ YAZI
  • ÖNCEKÝ YAZI
    Ausgabe 28 / August-Oktober 2013



    Ausgabe 28 / August-Oktober
 2013

     
     

    Die Gaste

    ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE

    ISSN 2194-2668

    DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN
    ÝNÝSÝYATÝF

    Yayýn Sorumlusu (ViSdP):
    Engin Kunter


    diegaste@yahoo.com

    Familien,
    Familiensprache(n) und sprachliche Frühförderung
    [Aileler, Aile Dil(ler)i ve Erken Yaþta Dil Desteði]


    Prof. Dr. Ernst APELTAUER
    (Flensburg Üniversitesi)


     
     


      When children learn language,
      they are learning the foundations of learning itself.
      Gordon Wells

    Im Folgenden geht es um die Beantwortung von zwei Fragen: Wie können Familien die sprachliche Entwicklung ihrer Kinder unterstützen? Und: Welche Rolle spielt die Familiensprache für die sprachliche Frühförderung (Deutsch)?

    1. Wie können Familien die sprachliche Entwicklung ihrer Kinder unterstützen?

    Welche Aufgaben müssen Kinder bewältigen, um sich ihre erste Sprache aneignen? Am Anfang hört ein Kind nur Geräusche. Doch nach etwa einem Jahr weiß das Kind, welche Laute und Lautkombinationen in der gehörten Sprache vorkommen. Kinder, die mit Türkisch aufwachsen wissen dann z. B., dass die Lautfolgen spr- am Wortanfang nicht vorkommen kann, während Kinder, die mit Deutsch aufwachsen, diese Kombination für normal halten (vgl. z. B. springen). Außerdem lernen die Kinder, welche wiederkehrenden Rhythmen und Akzentsetzungen es in der gehörten Sprache gibt. Sie erfahren z. B., dass die Endungen von Wörtern im Türkischen immer ausgesprochen werden, während Kinder, die mit Deutsch aufwachsen, rasch merken, dass Endungen oft verschluckt werden. Gleichzeitig lernen die Kinder, dass Sprechen immer von Gestik und Mimik begleitet wird. Manche Gesten kommen nur als Begleiter von Äußerungen vor, andere können auch an Stelle von Äußerungen eingesetzt werden. Man unterscheidet zwischen sog. Taktgesten, die mit Kopf oder Hand ausgeführt werden und den Sprechrhythmus markieren und konventionalisierten Gesten (z. B. die Handbörse im Türkischen zum Ausdruck von „sehr gut“), die ergänzend, verstärkend, aber auch an Stelle von sprachlichen Äußerungen gebraucht werden können. All das hilft Kindern, den anfänglich ungegliederten Lautstrom, den sie hören, zu unterteilen, so dass sie allmählich Wörter herauslösen und speichern können.

    Kleine Kinder lernen vor allem im Rahmen von Interaktionen mit ihren Eltern. Wenn eine Mutter beispielsweise einen Gegenstand hoch hält und darauf achtet, dass ihr Kind diesen auch ansieht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Gegenstand vom Kind wahrgenommen wird und dass das Kind auch hört, was die Mutter dazu sagt. Solche Situationen mit gemeinsamer Aufmerksamkeit sind Ausgangspunkte grundlegender Lernprozesse. Gelernt wird, dass mit Hilfe von Hinweisgesten jemanden auf etwas aufmerksam gemacht werden kann und es wird gelernt, Absichten von Menschen zu lesen, indem auf Körperhaltung, Stimme und Gebärden eines Sprechers geachtet wird. Stimmen verbale und non-verbal Botschaften nicht überein, werden die non-verbalen Botschaften meist stärker gewichtet. Und da Verhaltensweisen von Erwachsener von den Kindern nicht nur registriert, sondern auch nachgeahmt werden, wird ihnen das Einfühlen in die fremde Person dadurch zusätzlich erleichtert.

    Verständigung beginnt also nicht mit Sprache, sondern mit Mimik, Gestik und Stimme und mit der zu entwickelnden Fertigkeit, Wörter aus dem anfangs undifferenziert erscheinenden „Lautbrei“ herauszufiltern. So lernen Kinder im Laufe ihrer ersten Lebensjahre allmählich, wie man sich mit Hilfe von Gestik, Mimik und Sprache verständigt. Beiläufig erwerben sie dabei auch Wissen über ihre Sprache und über das Funktionieren dieser Sprache. Dieses Wissen beeinflusst ihr Wahrnehmen und ihr Denken und ist eine wichtige Ressource, die später auch beim Zweitspracherwerb (Deutsch) genutzt werden kann.

    Spracherwerb beeinflusst aber nicht nur das Wahrnehmen und Denken. Spracherwerb hat auch Auswirkungen auf die Begriffsbildung sowie auf das willkürliche Abrufen von Gedächtnisinhalten. Ja sogar Problemlösungsverhalten wird nachweislich durch begleitendes (und differenziertes) Sprechen positiv beeinflusst. Kurz: Sprache ist nicht nur ein Verständigungsinstrument, sondern auch ein wichtiges Werkzeug zum Strukturieren, zum Speichern und zum Denken. Kinder erhalten dadurch Anregungen für ihre kognitive und emotionale Entwicklung und es wird ihnen so das Sammeln und Speichern von Weltwissen erleichtert.

    Nach dem vierten Lebensjahr beginnen Kinder zunehmend bewusster über Sprache nachzudenken. Mit der einsetzenden Selbstreflexion und -evaluation entwickeln sie auch so etwas wie eine Selbststeuerung des eigenen (Lern-)Verhaltens. Kurz: Der Erwerb der Familiensprache hat für die Entwicklung der Kinder eine sehr große Bedeutung. Und darum sollte in jeder Familie die Familiensprache gepflegt werden. Wie kann dabei die sprachliche Entwicklung gefördert werden?

    Erstens: Eltern sollten Sprechfreude entwickeln helfen. Eine Sprache lernt man nicht nur durch zuhören, man lernt sie vor allem durch Sprechen. Darum sollte ein Kind immer wieder zum Sprechen ermutigt werden. Wenn Eltern sich für das interessieren, was ihr Kind bewegt, wird das Kind darüber auch gerne sprechen. Und man wird ihm (vorsichtig und sensibel) bei der Entfaltung seiner Gedanken und seiner Äußerungen helfen. Ein Kind, das interessierte Zuhörer hat, entwickelt auch rasch Mitteilungsbereitschaft und Sprechfreude.

    Zweitens: Eltern sollten Lernchancen erkennen und nutzen. Es gibt im Alltag viele Gelegenheiten, z. B. im Haushalt oder auf dem Weg zum Einkaufen. Da entdeckt ein Kind in einer Hecke beim Vorbeigehen ein Vogelnest. Beglückt will es seine Entdeckung der Mutter mitteilen. Wenn sie es eilig hat, wird sie vielleicht sagen: Lass das! Wenn sie aber daran denkt, dass ihr Kind hier etwas lernen könnte, was es später brauchen kann und dass beim Reden darüber zudem sprachliche Ausdruckmöglichkeiten weiterentwickelt werden, wird sie sich Zeit nehmen und mit dem Kind über seine Entdeckung sprechen, vielleicht sogar zu Hause in einem Buch (oder im Internet) gemeinsam mit dem Kind nachschlagen und neues Wissen sprachlich formulieren und zusammenfassen. Dadurch würde die Mutter ihrem Kind einerseits Möglichkeiten zur Erweiterung seines Weltwissen eröffnen und es andererseits zu einer weiteren Differenzierung seiner sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten anregen.

    Drittens: Zusammenhänge sollten angemessen erklärt werden. Wenn etwas erklärt wird, sollte es auf die Erfahrungen des Kindes und auf sein Verarbeitungsvermögen bezogen sein. Letzteres lässt sich am besten bestimmen, wenn man mit dem Kind über etwas spricht und gemeinsam mit ihm Bedeutungen entwickelt. Wie könnten solche Erklärungen konkret aussehen?

    Das folgende Beispiel stammt aus Wells (1986, 59). Es gibt einen Einblick in eine Alltagssituation und zeigt, wie solche Situationen als Lernchancen genutzt werden können. Zur Situation: Ein vier Jahre altes Mädchen sieht seiner Mutter zu, wie diese Asche aus dem Kamin in einen Eimer schaufelt.

       1 Kind: Warum machst du das?
        2 Mutter: Ich tu die Asche in den Eimer
        3 und den stell ich dann in den Garten.
        4 Papa wird die Asche im Garten verteilen.
        5 Kind: Warum macht er das?
        6 Mutter: Das mögen die Pflanzen.
        7 Kind: Wachsen sie dann besser?
        8 Mutter: Ja.
        9 Kind: Warum?
        10 Mutter: Du weißt, dass du verschiedene Dinge essen
        11 sollst, Eier z. B. oder Gemüse, damit du
        12 ein großes Mädchen wirst.
        13 Kind: ja
        14 Mutter: Und so ist das auch mit Pflanzen. Für die gehört Asche zu den guten Dingen.

    Im Alltag lassen sich viele solche Situationen finden. Jede stell eine potenzielle Lernchance dar. Wird ein solcher Anlass aufgegriffen und mit Kindern darüber geredet, so wird ein Kind angeregt, etwas genau(er) zu betrachten und es wird zum Nach- bzw. Mitdenken animiert und zum Speichern von neu gewonnenen Eindrücken und Einsichten. Gleichzeitig vermitteln die Eltern damit auch Einstellungen und Wertschätzungen: Lernen ist wichtig. Lerne, wo immer du kannst. Sprich über das, was du wahrnimmst oder gelernt hast. Dann kannst du es dir besser merken.

    2. Welche Rolle spielt die Familiensprache für die sprachliche Frühförderung?

    Ergebnisse der Hirnforschung weisen darauf hin, dass das Erlernen differenzierter sprachlicher Ausdrucksformen auch Einfluss auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten hat. Mit den Worten des Max Planck Forschers Wolf Singer:

      „Offenbar kann man (…) durch den übenden Umgang mit einer differenzierten Sprache die abstrakte Konstrukte auszudrücken erlaubt, erlernen, solche Konstrukte auch zu denken und sich vorzustellen.“ (Singer, 2001, 7)
    Brauchen Vorschulkinder so etwas? Wird das nicht erst in der Schule relevant?

    So wie man festgestellt hat, dass durch Gesten der Wortschatzerwerb erleichtert wird, so wurde auch nachgewiesen, dass die Wortschätze von Schulanfängern große Unterschiede aufweisen. Es gibt z. B. Schulanfänger, die nur ca. 3000 oder 5000 Wörter beherrschen, während andere bis zu 9000 Wörter gebrauchen. US-amerikanische Forscher (vgl. Hart/Risley 1995) haben festgestellt, dass ein Kind in einer Woche in seiner Familie ca. 215 000 Wörter hört, wohingegen ein anderes Kind in seiner Familie in der selben Zeit nur ca. 62 000 Wörter hört. Solche Unterschiede wirken sich natürlich auf den Spracherwerb aus. Zwar merkt sich ein Kind nicht jedes gehörte Wort. Aber Wörter hinterlassen Spuren im Gehirn und wenn sie mehrfach gehört oder gar erklärt werden (z. B. beim Vorlesen), können sie auch dauerhaft gespeichert werden. Sie tragen zur Vermehrung des Sprach- und Weltwissens bei. In der Schule und vor allem im Unterricht wird ein großer Wortschatz und viel Weltwissen benötigt, weil Zusammenhänge häufig nicht (oder nicht ausreichend) erklärt werden. Kinder mit einem großen Wortschatz und viel Weltwissen können solche Zusammenhänge erraten.

    Wie kann man Kinder anregen, einen umfangreichen Wortschatz und differenziere sprachliche Ausdrucksmittel zu erwerben? Als eine der besten Möglichkeiten gilt interaktives Vorlesen. Interaktiv bedeutet, dass vorgelesene Geschichten ab und an unterbrochen werden, um das zuhörende Kind einzubeziehen, z. B. durch Fragen (Was denkst du, wie geht es weiter?) oder durch Verweise auf Erfahrungen des Kindes, so dass das Kind das Gehörte besser verstehen und vielleicht auch mitreden kann. Ein solches Vorlesen bedeutet auch, dass Wörter und Formulierungen, die in der Alltagssprache nur selten vorkommen, die aber später in der Schule häufiger gebraucht werden, vom Kind gelernt werden können. Werden neue Wörter beim Vorlesen erläutert, können bis zu 30% der neuen Wörter gespeichert werden (vgl. Elley 1989). Darum sollten Eltern regelmäßig (jeden Abend ca. 10 Minuten) Gute-Nacht-Geschichten vorlesen und anschließend mit ihrem Kind über das Gehörte sprechen.

    Eltern sollten auch herauszufinden versuchen, was ihr Kind besonders interessiert. Denn dann können sie neben Geschichten oder Märchen auch Sachbücher (z. B. über Blätter oder über Vögel oder über die Feuerwehr oder …) vorlesen. Sie sollten sich dazu möglichst auch Gegenstände besorgen (z. B. verschiedene Blätter oder Federn), so dass das Kind nicht nur Abbildungen zu sehen bekommt, sondern auch Objekte zum Anfassen und evtl. auch zum „Beschnuppern“. Dadurch erhalten Kinder viele zusätzliche Anregungen: Zum Wahrnehmen, zur Begriffsbildung und ganz allgemein zur Erweiterung ihres Weltwissen.

    Im Anschluss an Phasen interaktiven Vorlesens sollte über das Gehörte immer gesprochen werden, weil in solchen Anschlussgesprächen Eltern herausfinden können, was ein Kind noch nicht verstanden hat und es können (falls erforderlich) Zusatzerklärungen gegeben werden (vgl. oben Asche und Pflanzen). Warum sind solche Anschlussgespräche wichtig? Weil wir Kinder nur anregen können, lernen müssen sie selbst. Mit den Worten eines Hirnforschers: „Wissen kann nicht übertragen werden, es muss im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen werden.“ (Roth 2004, 497)

    Ein großer Wortschatz und eine differenzierte (und gut beherrschte) Familiensprache helfen aber nicht nur beim Orientieren in der Welt, beim Sammeln von Weltwissen und beim Lernen. All das trägt mit dazu bei, dass auch das Aneignen der Zweitsprache Deutsch erleichtert wird. Denn wenn ein Kind Sprechfreude entwickelt hat und dank der Bemühungen der Eltern weiß, wie wichtig und interessant Sprechen und Sprache(n) sind und zudem erfahren hat, dass Lernen Freude bereiten kann, wird es auf sprachliche Fördermaßnahmen anderes reagieren, als wenn es über keine dieser positiven Lernvoraussetzungen verfügt. Eltern können also sowohl das Deutschlernen als auch Sprachfördermaßnahmen indirekt unterstützen, wenn sie ihrem Kind helfen, eine differenzierte und an Schriftsprache orientierte Familiensprache zu entwickeln und Möglichkeiten schaffen, damit ihr Kind gerne Neues lernt, darüber spricht und sich Zusammenhänge so leichter einprägt.

    Literatur
        Apeltauer, E. 2008: Wortschatz und Bedeutungsentwicklung bei zweisprachig aufwachsenden Kindern; Flensburg [Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht Heft 47/48, 61 Seiten]
        Apeltauer, E: 2010: Wortschatz- und Bedeutungsvermittlung durch Anbahnen von Literalität; Flensburg [Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht Heft 53, 32 Seiten, kann von der Uni-homepage von Prof. Dr. Apeltauer heruntergeladen werden]
        Apeltauer, E. 2013: Neue Perspektiven sprachlicher Frühförderung; Flensburg [Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht, Heft 59/60, 45 Seiten]
        Elley, W. 1989: Vocabulary acquisition from listening to stories. In: Reading Research Quarterly 24, 2, 174 – 187.
        Hart, B./Risley, T.R. 1995: Meaningful differences in the everyday experience of young American children; Baltimore : Brooks
        Roth, G. 2004: Warum sind Lehren und Lernen so schwierig? In: Zeitschrift für Pädagogik, 50, 496 – 506.
        Singer, W. 2001: Was kann ein Mensch wann lernen? In: Kilius, N./Kluge, J./Reisch, L. Hrsg.: Die Zukunft der Bildung; Frankfurt/M : Suhrkamp im Internet unter
        www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/Np/Pubs/singeressays.d.htm [abgerufen: 10.08.2006]
        Wells, G. 1986: The Meaning Makers, Children Learning Language and using Language to learn; London : Hodder & Stoughton [zitiert nach der 7. Auflage von 1990]