Die Gaste, Ausgabe 15 / Januar-Februar 2011

Von der europäischen zur deutschen hin zur christlich-jüdischen Leitkultur
[Avrupa Yönetici Kültüründen Alman ve Hýristiyan-Yahudi Yönetici Kültürüne]


Prof. Dr. Gudrun Hentges




    Totgesagte leben länger… Nach den Debatten über Kopftuch, Zwangsehe und Ehrenmord sorgt nun wieder der Begriff „Leitkultur“ für Schlagzeilen. Anbei einige Beispiele für Überschriften zum Thema: „Für Leitkultur und soziale Marktwirtschaft“, „Leidvolles statt Leitkultur“, „Diffuse Leitkultur“, „Zwischen Koran und Leitkultur“, „Leadership and Leitkultur“ – um nur einige Überschriften zu der Thematik zu zitieren. Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Popularität eines Begriffs in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seiner begrifflichen Schärfe steht. Mit anderen Worten: Je unpräziser und nebulöser, desto beliebter in der öffentlichen und politischen Debatte. Der Begriff Leitkultur fungiert, so meine These, als Projektionsfläche für unterschiedliche, zum Teil auch konträre Vorstellungen und Konzeptionen.

1. Bassam Tibi und die Leitkultur-Debatte

    Vergeblich sucht man in Enzyklopädien oder in der wissenschaftlichen Fachliteratur nach einer Definition von Leitkultur. Der in Göttingen lehrende Politikwissenschaftler Bassam Tibi prägte diesen Begriff erstmals im Jahre 1996 in einem Beitrag mit dem Titel „Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust“.1 In seinem zwei Jahre später erschienenen Buch „Europa ohne Identität?“ erläuterte Tibi den Begriff „Leitkultur“ – allerdings im Sinne einer europäischen Leitkultur – und füllte ihn „in Abgrenzung zur Wertebeliebigkeit des Multikulturalismus“ „mit einem kulturpluralistischen Inhalt“2. Folgende Werte sollten seiner Meinung nach die Substanz einer für Europa benötigten Leitkultur bilden:     „Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, d.h. vor der Geltung absoluter religiöser Wahrheiten, individuelle Menschenrechte (also nicht Gruppenrechte), säkulare, auf die Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie, allseitig anerkannter Pluralismus sowie ebenso gegenseitig zu geltende säkulare Toleranz.“3     Tibis Bestimmungsmerkmale einer europäischen Leitkultur verweisen auf republikanische Werte, die sich im Zuge der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen – insbesondere der Französischen Revolution – herausbildeten. Er verwendet den Begriff der (Leit-)Kultur im Sinne einer universalen Zivilisation. Die in der politischen Debatte vorgenommene Umdeutung der europäischen in eine deutsche Leitkultur geht mit einer inhaltlichen Entleerung des Begriffs einher und die Forderung nach einer deutschen Leitkultur avanciert zum Synonym für eine repressive Ausländer- und Asylpolitik.

2. Von der europäischen zur deutschen Leitkultur


    Tibis Forderung nach einer (europäischen) Leitkultur spielte in der öffentlichen Debatte zunächst keine bedeutende Rolle. Einen Versuch der Popularisierung wagte Jörg Schönbohm, damals noch Vorsitzender des Landesverbandes der CDU Berlin-Brandenburg, der sich im Zuge der Kampagne gegen die doppelte Staatsangehörigkeit zum Verteidiger der deutschen Leitkultur aufschwang und „Parallelkulturen“ den Kampf ansagte. Letztlich war es jedoch der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz, der im Oktober 2000 mit seiner Forderung, die in Deutschland lebenden Ausländer müssten sich einer deutschen Leitkultur anpassen, den Begriff in die öffentliche Debatte einbrachte. Die Aussage von Merz löste eine Welle der Empörung aus, zog aber auch zahlreiche Solidaritätsbekundungen nach sich. Der Vorsitzende der CSU-Grundsatzkommission, Alois Glück, forderte die Anwendung des Prinzips der Leitkultur für die Gestaltung der Zuwanderung; die Leitkultur solle eine Alternative zum Bild einer multikulturellen Gesellschaft darstellen.4 Der frühere Generalsekretär der CDU/CSU, Laurenz Meyer, verteidigte Merz und erklärte, „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, und Jörg Schönbohm meinte, er halte „sehr viel“ vom Begriff der „deutschen Leitkultur“.5
    Der entscheidende semantische Wandel – die Abkehr von der europäischen und Hinwendung zur deutschen Leitkultur – ging damit einher, dass deren Inhalt nebulös blieb. Wurden die Unionspolitiker/innen dazu aufgefordert, den Begriff zu definieren, so nannten sie die Loyalität zur Verfassung, Kenntnisse der deutschen Sprache, die Akzeptanz von Menschenrechten sowie die Anerkennung der Gleichberechtigung der Frau. Kritiker/innen fragten zu Recht, weshalb man denn einen neuen Begriff benötige, wenn sich seine inhaltliche Bedeutung dann doch auf jene Aspekte beschränke, die bereits seit Jahren und Jahrzehnten in der Diskussion seien. Die Forderung nach einer deutschen Leitkultur stiftete Verwirrung, weil ihre Bedeutung häufig unklar war und die Vermutung nahe lag, dass sich die inhaltliche Reichweite des Begriffes keineswegs auf Verfassungstreue und Sprachkompetenz reduziere.
    In ihrer Arbeitsgrundlage für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands konstatierte die CDU/CSU, Integration erfordere neben der Sprachkompetenz auch eine Entscheidung für die Staats- und Verfassungsordnung.     „Dies bedeutet, dass die Werteordnung unserer christlich-abendländischen Kultur, die vom Christentum, Judentum, antiker Philosophie, Humanismus, römischen Recht und der Aufklärung geprägt wurde, in Deutschland akzeptiert wird. (...) Unser Ziel muss eine Kultur der Toleranz und des Miteinander sein – auf dem Boden unserer Verfassungswerte und im Bewusstsein der eigenen Identität. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird.“6
    Indem die Unionspartei in ihrer Programmatik von einer expliziten Forderung nach einer deutschen Leitkultur Abstand nimmt, jedoch an der Formel „Leitkultur in Deutschland“ festhält, versucht sie, der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen: Eine „Leitkultur in Deutschland“ erkenne ja die heterogenen Einflüsse auf die deutsche Kultur an. Auffällig ist jedoch, dass die Unionsparteien dem Islam keinerlei Einfluss auf die Werteordnung „unserer christlich-abendländischen Kultur“7 zugestehen. Sie gehen hier nicht nur von einem statischen Kulturbegriff aus, sondern negieren die Einflüsse, die der Islam auch in europäischen Ländern auf die Grundlagenwissenschaften (Algebra, Chemie) und auf die experimentell fundierten angewandten Wissenschaften (Astronomie, Medizin, Optik) auszuüben vermochte.
    Im Februar 2007 schreckte die CDU noch davor zurück, sich positiv auf den Begriff der Leitkultur zu beziehen. „Leitkultur“ tauchte in dem Textvorschlag des Entwurfs eines neuen CDU-Programms, auf das sich die Grundsatzkommission im Februar 2007 verständigte, zunächst nicht auf.8 Der damalige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bernhard Vogel, der die Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung eines Textvorschlags leitete, äußerte sich skeptisch gegenüber der Verwendung des Begriffs. Auch CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla, Leiter der Grundsatzprogrammkommission, befürchtete zunächst, dass der Begriff die Debatte zu sehr dominieren könnte. Ende Februar 2007 verkündete Pofalla jedoch:     „Wir wollen den Begriff Leitkultur verwenden, ohne zu verletzen. Das geht nur dann, wenn wir den Begriff mit Substanz füllen. Unter Leitkultur verstehen wir die Bedingungen unseres Zusammenlebens. Dazu gehört zum einen die Anerkennung der Werte des Grundgesetzes. Die Menschen, die hier leben, müssen Teil unserer nationalen Verantwortungsgemeinschaft werden, also nicht in Parallelgesellschaften leben. Sie müssen sich vertraut machen mit der Geschichte und Tradition unserer Nation. Sie müssen unsere Sprache beherrschen und natürlich die Bereitschaft zu Leistung und Verantwortung haben.“9

3. 3. Die deutsche Leitkultur und die christlich-jüdische Leitkultur

    Derzeit erlebt der Begriff „Leitkultur“ eine unerwartete Renaissance, sowohl im Umfeld der Unionsparteien, als auch in der öffentlichen Debatte. Im Leitantrag „Verantwortung Zukunft“ für den CDU-Parteitag (taz v. 15.11.2010) findet sich folgende Formulierung: „Die christlich-jüdische Tradition, die Philosophie der Antike, die Aufklärung und unsere historischen Erfahrungen bilden die Leitkultur in Deutschland.“10 Die CDU entschied, die „christlich-jüdische Tradition“ zur Grundlage der „Leitkultur in Deutschland“ zu deklarieren. Hier wird deutlich, wie problematisch solche Definitionen sind.
    Erstens: Die Behauptung, die „christlich-jüdische Tradition“ bilde die „Leitkultur in Deutschland“, kritisiert z.B. Rupert von Plottnitz, Mitglied des Staatsgerichtshofs Hessen, wie folgt: „Die Hoffnung nämlich, im Umgang mit der Religionsfreiheit mit zweierlei Maß messen zu können, also dem Islam vorzuenthalten, was Christen und Juden opulent zuteil werden soll, dürfte spätestens beim Bundesverfassungsgericht scheitern.“11 Von Plottnitz verweist hier auf das BVerfG-Urteil vom 24. September 2003, in dem darauf hingewiesen wurde, dass das Gebot strikter Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen zu beachten sei. Demnach ist der Staat zu einer religiösen Neutralität verpflichtet.12
    Zweitens: Ferner wird in den zentralen Dokumenten, die von einer „christlich-jüdischen Tradition“ der „Leitkultur in Deutschland“ sprechen, mit keinem Wort erwähnt, dass die vermeintlich harmonischen christlich-jüdischen Traditionen im 20. Jahrhundert dazu führten, dass deutsche Staatsbürger/innen jüdischer Herkunft ausgebürgert und des Landes verwiesen wurden, dass sich die sog. Volksdeutschen im Zuge der Arisierung jüdischen Eigentums bereicherten – ganz zu schweigen davon, dass sechs Millionen Jüdinnen und Juden aus ganz Europa im Zuge eines industriell organisierten Massenmords systematisch ermordet wurden. Der Begriff der „christlich-jüdischen Tradition“, der nun in den Leitantrag „Verantwortung Zukunft“ Eingang gefunden hat, müsste kritisch auf seinen Wahrheitsgehalt bzw. auf seine Schattenseiten hin hinterfragt werden.
    Drittens: Während die jüdischen Traditionen, die es zweifelsohne in Deutschland über die Jahrhunderte hinweg gegeben hat, im Leitantrag vereinnahmt werden, finden die islamischen Traditionen mit keinem Wort Erwähnung; ebenso wenig wird die Anwesenheit von ca. 3,0 bis 3,5 Mio. Muslimen in Deutschland erwähnt, von denen viele bereits seit den 1960er-Jahren in Deutschland leben und arbeiten.13 Vielmehr kulminiert die positive Bezugnahme auf die christlich-jüdischen Traditionen in eine Kampfansage gegen die sog. (muslimischen) Integrationsverweigerer, denen ein Ende der Toleranz angekündigt wird.14
    In der aktuellen Debatte wird auch deutlich, dass die lange vorhandene Skepsis gegenüber dem Begriff „deutsche Leitkultur“ im Laufe des letzten Jahrzehnts deutlich erodiert ist. Mittlerweile verkündet der CSU-Chef Horst Seehofer „Multikulti ist gescheitert“ und pocht auf eine „deutsche Leitkultur“: „Wir stehen für eine deutsche Leitkultur“. Seehofer betrachtet den Wertekanon in Deutschland als „christlich orientiert mit jüdischen Wurzeln“. Der Wertekanon sei nicht islamisch geprägt, und das müsse auch so bleiben.
    „Im Wechsel der Jahreszeiten betreiben deutsche Politiker ‚Leitkulturdebatten‘“, so kommentiert die ZEIT. „Seehofers ‚christlich-jüdische Leitkultur‘ begnügt sich auch nicht mit der Forderung nach Rechtsgehorsam oder einer Reformation des Islams. Sie ist radikaler. Sie lädt nicht ein, sondern sie droht, sie gießt Öl ins Feuer, um sich selbst daran zu wärmen. Unter den Schalmeienklängen von ‚Werten‘ und ‚Kultur‘ ergeht die Forderung nach Strafen und Überwachen, nach Missachtung und Denunziation. (…) Das ‚Christlich-Jüdische‘ markiert – den Feind.“15

4. 4. Eine missglückte deutsche Debatte

    Eine der zentralen Fragen der Debatte ist die nach den Normen und Werten der jeweiligen Kultur. Die von Bassam Tibi benannten Bestimmungsmerkmale einer europäischen Leitkultur orientieren sich an der Aufklärung, an Forderungen bürgerlicher Revolutionen und an westlichen Demokratien. Für diese republikanischen Werte den Begriff einer Leitkultur zu erfinden, trug keineswegs zu einer Erhellung der Debatte um kulturellen Pluralismus, Multikulturalismus und gesellschaftliche Integration von Ausländer(inne)n und Migrant(inn)en bei. Im Gegenteil: Die europäische Dimension der von Tibi geforderten Leitkultur wurde von ihren deutschen Protagonisten weitgehend ignoriert; einzig und allein die deutsche Leitkultur interessierte in der öffentlichen Debatte. Kaum hatte Tibi den Begriff „erfunden“, schon verlor er die Deutungsmacht über ihn. Die Umdeutung der europäischen in eine deutsche Leitkultur ist charakteristisch für die deutsche Debatte. Die Positionen differenzieren sich aus, wenn es darum geht, den Begriff der deutschen Leitkultur inhaltlich zu füllen. Beschränken sich einige Leitkultur-Konzeptionen auf die Loyalität gegenüber der Verfassung und auf die Sprachkompetenz, so weisen andere Stellungnahmen weit darüber hinaus. Hier werden eine deutsche Kultur oder ein deutscher (National-) Charakter entworfen, an dem sich Zuwanderer zu orientieren haben. Jenseits dieser expliziten Forderung nach kultureller Assimilation finden sich in der Debatte zahlreiche implizite Ausgrenzungen und Stigmatisierungen.
    Ebenso wenig erhellend ist die positive Bezugnahme auf die christlich-jüdischen Traditionen einer Leitkultur in Deutschland. Eine Verknüpfung von christlich und jüdisch suggeriert eine friedliche und fruchtbare Koexistenz von Judentum und Christentum in Deutschland. Die positive Bezugnahme auf die jüdischen Traditionen geht einher mit einem negativen Rekurs auf islamische Traditionen in Deutschland bzw. mit einem kritischen Blick auf die Anwesenheit von Muslimen in Deutschland, die in der politischen Debatte häufig als Integrationsverweigerer stilisiert werden. Hier zeigt sich – wie auch in einigen kritischen Beiträgen herausgearbeitet wurde – die Janusköpfigkeit der Leitkulturdebatte. Sie grenzt soziale Gruppen aus, identifiziert sie als Gruppen, die in Widerspruch stehen zu einer wie auch immer definierten Leitkultur und trägt letztlich zu einer Feindbildkonstruktion bei, deren Mechanismen auch auf andere Gruppen übertragbar sind.
   
   Fußnoten:
   
    1 Vgl. Tibi 1996, S. 27-36
    2 Tibi 2001, S. 23-26
    3 Tibi 2000, S. 183 (Herv. i. O.)
    4 vgl. Frankfurter Rundschau v. 27.10.2000
    5 vgl. web.de, ticker 16:12, v. 23.10.2000
    6 CDU 2000
    7 Ebd.
    8 zit. nach: FAZ 2007, S. 2
    9 Interview mit Pofalla 2007
    10 Stefan Reinecke: Leitkultur im Leitantrag, in: taz v. 15.11.2010
    11 von Plottnitz 2010, S. 29
    12 Vgl. von Plottnitz 2010, S. 28 ff.
    13 Muslime in Deutschland 2007, S. 34
    14 CDU definiert “Leitkultur” - Kirchen kritisieren Konzept, SWR, 16.11.2010
    15 Leitkulturdebatte Die neuen Feinde, Das Gerede von der “christlich-jüdischen Leitkultur“ schürt den Fremdenhass, in: Zeit Online v. 23.10.2010