Die Gaste, Ausgabe 15 / Januar-Februar 2011

Die Leitkultur, eine virtuelle Festung
[Yönetici Kültür – Sanal Bir Kale]


Prof. Dr. Wolf-D. Bukow




    Die deutsche Leitkultur ist aus dem öffentlichen Diskurs schon lange nicht mehr wegzudenken. Niemand kann zwar genau angeben, was damit gemeint ist, aber sie ist in aller Munde und scheint auch sehr folgenreich zu sein. Wie ist es zu diesem Narrativ gekommen und warum ist es zu so einem wirkungsvollen sozialen Mythos geronnen?

Zur Vorgeschichte

    Die Vorgeschichte beginnt damit, dass sich vor gut fünfzig Jahren einige Heidelberger Wissenschaftler zusammen getan haben, um rechte deutsch-nationale Positionen wieder salonfähig zu machen, nachdem sie durch den Zweiten Weltkrieg nachhaltig in Verruf geraten schienen. Zu diesem Zweck bedienten sie sich moderner systemtheoretischer Ideen, formten daraus ein “ausländer”-feindliches Gesellschaftsbild (das “Heidelberger Manifest”) und forderten eine neue “nationale Identität”. Und tatsächlich fanden sie mit dieser modernisierten rechten Position bald Anklang in konservativen Kreisen, vorzugsweise in der CDU in Baden-Württemberg und der CSU in Bayern. Ausgehend vom CDU-nahen “Think-Tank” Weikersheim verbreitete sie sich schnell. Bald gab es keinen Landtags- und keine Bundestagswahl-kampf mehr, wo man sich nicht dieser Argumente bediente. Insbesondere wurde es seitdem beliebt, den “Ausländer” mit Verweis auf “deutsche” Interessen zu diskriminie-ren. Ein neues nationales Narrativ war erfolgreich auf den Weg gebracht.
    Es war dann der Historiker Helmut Kohl, der dieses Konzept geschickt aufgriff dazu nutzte, um von Rheinland-Pfalz an die Schalthebel der Macht zu kommen und der, nachdem er zum Bundeskanzler geworden war, dieses Narrativ dazu einsetzte, seine “Volkspartei” um das rechte Wählerpotential zu erwei-tern. Darüber hinaus setzte er es ein, um eine “ausländer”-feindliche” Stimmung zu erzeugen, die ihm dazu diente, sich als Hüter der Nation zu inszenieren. Seine Strategie war, wie man rückblickend erkennen kann, nicht nur erfolgreich, sondern auch folgen-reich. Es ist ihm gelungen, rechte Wähler anzuziehen und die Republikaner und andere Rechtsparteien wie die NPD klein zu halten, aber er hat dies mit einem Wandel des bürgerlichen Selbstbewusstseins erkauft. Das rechte Gedankengut wurde wieder in der Mitte der Gesellschaft salonfähig. Am harmlosesten war da noch der Versuch, das nationale Narrativ symbolisch in Szene zu setzen. Das Haus der Deutschen Geschichte in Bonn ist einer der vielen Belege dafür. Viel folgenreicher jedoch war, dass die Gesellschaft renationalisiert und zugleich auf “Ausländerfeindlichkeit” eingestimmt wurde.
    Diese zweifache Botschaft kam an und lässt sich seitdem immer wieder belegen. So hat man sich vierzig Jahre lang erfolgreich geweigert, eine Einwanderung zu akzeptieren, die längst zu einer unumkehrbaren sozialen Tatsache geworden war. Dass sie ankam, lässt sich auch im Rahmen der Ereignisse um die deutsche Wiedervereinigung zeigen, die als ein nationales Ereignis zu inszeniert wurde. Der Ruf “Wir sind das Volk” wird als Botschaft der nationalen Einheit formuliert und richtet sich zugleich gegen jeden Fremden, wie die Pogrome von Solingen bis Hoyers-werda dokumentieren. Seit der Wiedervereinigung ist die Debatte über die nationale Identität allmählich zurück gegangen und lebte nur noch eine Weile in den Feuilletons und in eher populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen fort. Vor dem Hintergrund einer seitdem anhaltenden einwanderungsfeindlichen bzw. rassistischen Stimmung bedeutet das freilich nicht, dass die Thematik erschöpft ist, sondern ganz im Gegenteil, dass die Botschaft endgültig angekommen ist und sich längst in der Mitte der Gesell-schaft veralltäglicht hat. Und genau das bestätigen auch erst jüngst wieder entsprechen-de empirische Studien. Mit der Veralltäglichung der nationalen Stimmung verfestigt sich die einwanderungsfeindliche Einstellung. Hinzu kommt, dass sich damit die Möglichkeit eröffnet, mit dem im Alltag überdauerten alten rechten Gedankengut zu verschmelzen, also antisemitische Ressentiments zu integrieren. Vor diesem Hinter-grund wird aus dem Narrativ ein gesellschaftlicher Mythos, der unterdessen ganze Milieus infiltriert hat.

Von der “nationalen Identität” zur “Leitkultur”

    Es waren wieder Wissenschaftler und hier vor allem der Göttinger Religionswissenschaftler Bassam Tibi, die die Debatte voran trieben. Bassam Tibi veröffentlichte 1998 seine Arbeit über “Europa ohne Identität”. Auch er bedient sich wie einst schon die Heidelberger Wissenschaftler der Systemtheorie. Er greift explizit den Begriff der “Leitdifferenz” von Niklas Luhmann auf und überträgt ihn auf Europa. Damit ist der Begriff “Leitkultur”geboren Dieses neue Narrativ wird sehr schnell von allen konservativen Politikern aufgenommen, weil es deutlich flexibler als das alte Narrativ “nationale Identität” erscheint und vor allem den Vorzug hat, sich besser an die europäische Idee anzuschmiegen. Schon wenige Wochen nach dem Erscheinen der Arbeit von Bassam Tibi würdigt Friedrich Merz dessen Begrifflichkeit. Und er setzt die "deutsche Leitkultur" sogleich polemisch gegen das Konzept einer “multikulturellen Gesellschaft” ein. Er nimmt damit ganz bewusst in Kauf, dass sich die Union erneut auf den "Marsch nach rechts" begibt. Schon ein halbes Jahr später werden Bassam Tibis Überlegungen in der Beilage der Bundestagszeitschrift “Das Parlament” unter dem Titel “Leitkultur als Wertekonsens” veröffentlicht und finden nunmehr breite Zustimmung in Unionskreisen. Und als schließlich Angela Merkel 2005 Bundeskanzlerin wird, zitiert sie Bassam Tibi selbst. Sie findet die Ideen dieses, wie sie es formuliert, “deutschen Ausländers”, sehr überzeugend. Und tatsächlich bietet dieses neue Narrativ zwei Vorteile gegenüber dem alten Narrativ:
        a) Erstens hat man jetzt die Möglichkeit, die nationale Identität auf europäischer Ebene zur reformulieren, ohne sie in ihrer Substanz aufzugeben. Denn statt deutscher Werte kann man jetzt deutsche Wer-te im Kontext der europäischen Grundlagen, statt Deutschland ein Deutschland als Teil eines christlichen Abendlandes beschwören.
        b) Und zweitens kann man die alte “Auslän-derpolitik” den europäischen Partnern andienen, ohne sich substantiell korrigie-ren zu müssen.
    Für beides liefert schon Bassam Tibi selbst die Vorlage, wie in seiner Stellungnahme zur damaligen Debatte deutlich wird. Erkennbar wird auch, dass es sich eigentlich nur um eine weitere Modernisierung des bisherigen Narrativs handelt:    “Bei meinem Konzept von Leitkultur geht es mir jedoch darum, eine wildwüchsige Zuwanderung in eine an den Bedürfnissen des Lan-des orientierte Einwanderung zu verwandeln und diese Einwanderer im Rahmen einer europäischen Identität zu integrieren, d. h. nicht - diese Unterscheidung ist von elementarer Bedeutung -, sie zu assimilieren. Genau darin besteht das Er-fordernis einer rationalen Bewältigung unbestreitbar vorhandener Unterschiede und zugleich der Schaffung eines Konsenses über zentrale Normen und Werte hierzulande. Auch erkenne ich an, dass Einwanderung Grenzen hat...” (Aus Po-litik und Zeitgeschichte - B 1-2/2001).     Eigentlich müsste man Bassam Tibi, der ja selbst aus Syrien stammt und erst als Student eingewandert ist, zugute halten, dass er zumindest “Assimilation” als Strategie für das deutsche Migrationsregime ablehnt. Aber das ist nun wirklich eine marginale Bemerkung angesichts seiner Kernthese, die man spätestens dann erkennt, wenn man seinem Begriff der “Leitkultur” mit Luhmanns Begriff der “Leitdifferenz” im jeweiligen Sinnkontext vergleicht. Während es nämlich in Luhmanns Systemtheorie darum geht, mit “Leitdifferenz” die Besonderheiten eines (Teil-) Systems innerhalb einer Gesellschaft zu markieren und den Begriff formal meint, wenn er z.B. die Besonderheiten eines Rechtssystems gegenüber einem sozialen oder einem kulturellen System beschreibt, geht es bei Bassam Tibis “Leitkultur” darum, erstens die Besonderheiten einer Gesamtgesellschaft gegenüber dem Rest der Welt herauszustellen und zweitens die Hegemonie der Gesamtgesellschaft über den Rest der Welt zu sichern. Bei Luhmann geht es darum, dass ein System so gestaltet werden muss, dass es mit seinem besonderen Anliegen allen entsprechenden Nachfragen gerecht werden kann. Bei Tibi ist gemeint, dass sich ein Einwanderer so einfügen muss, dass er zur Gesellschaft inhaltlich passt. Hier geht es nicht um anpas-sungsbereite “lebende Systeme”, sondern darum, den Einzelnen nach dem Motto “friss oder stirb” in die “Pflicht”zu nehmen. Es geht nicht um die Öffnung der Systeme für neue Mitglieder und deren Bedürfnisse, sondern es geht um ein inhaltliches Bekenntnis des Einzelnen zur Systemidentität. Hier wird ein Gesellschaftsverständnis zementiert, das dem Geist der Nationalstaaten des 18.Jahrhunderts verpflichtet ist, aber schon in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts fraglich wurde. Zu modernen, arbeitsteilig aufgestellten, längst nach außen globalisierten und nach innen diversifizierten Gesell-schaften passt ein solches Bild von der Gesellschaft als eine Festung erst recht nicht mehr. Das Konzept konnte nicht funktionieren, wie Bassam Tibi sechs Jahre später selbst resigniert feststellen muss.1

Zur aktuellen Situation

    Die Debatte um die Leitkultur hat spätestens mit dem Wahlkampf 2008 den Platz eingenommen, den vorher das Narrativ “nationale Identität” beansprucht hat. Mit der Neumodellierung des nationalen Narrativs ist aber nicht nur eine weitere Modernisierung des rechten Gedankenguts gelungen, sondern man hat vor allem auch erreicht, dass die bereits in das Alltagsbewusstsein abgesunkenen Vorstellungen reaktiviert wurden. So sind sie heute wieder politisch zu Diensten und können zur Errichtung einer “virtuellen Festung” genutzt werden.
    Freilich hat man damit auch die diesem Gedankengut im Verlauf der Veralltäglichung zugewachsene religiöse Fundierung, vor allem auch in der negati-ven Ausrichtung als Antisemitismus, mit ins Boot geholt. Die einwanderungsfeindli-chen Einstellungen hatten sich offensichtlich beim Marsch durch den Alltag längst mit antisemitischen Ressentiments vermischt. Die religiöse Fundierung ist angesichts der Islamdebatte nützlich, die antisemitischen Ressentiments passen jedoch nicht in die politische Landschaft. Das wird allerdings zunächst noch nicht berücksichtigt. So heißt es im Grundsatzprogramm der CDU, das von der CDU auf dem 21. Parteitag vor vier Jahren beschlossen wurde, im Kapitel I “Wir christliche Demokraten” im Absatz 37:    “Diese kulturellen Werte und historischen Erfahrungen sind die Grundlagen für den Zusammenhalt in unsere Gesellschaft und bilden unsere Leitkultur in Deutschland...”     Sicherlich war die religiöse Akzentuierung schon immer mit gedacht und spielte ja auch im überkommenen rechten Gedankengut stets eine zentrale Rolle. Und sie lässt sich auch für den Kampf der Kulturen, wie ihn Huntington nach dem Ende des kalten Krieges postuliert hat, optimal nutzen. Aber der Antisemitismus, der sich dabei Bahn bricht, wird schnell zu einem Problem. Nichts belegt das eindring-licher als die Publikation des ehemaligen Bundesbankdirektors Thilo Sarrazin mit dem bezeichnenden Titel “Deutschland schafft sich ab”, die zu Weihnachten 2010 bereits1,5 Millionen mal verkauft wurde und ihn unterdessen zum Multimillionär gemacht hat. Er argumentiert ohne fachliche Kenntnisse, gibt eher wieder, was man am Stammtisch denkt. Er orientiert sich sehr stark am “Denken wie gewohnt”. Das gilt auch für die immer wieder durchkommenden rassistischen Untertöne und antisemitischen Argumen-tationsmuster, die er freilich häufig antiislamisch ummünzt. So sah sich erst jüngst wieder – im Oktober 2010 – die Bundeskanzlerin Angela Merkel genötigt, das Leitkul-tur-Narrativ, das sie lange nur christlich definiert hatte – beispielsweise als sie für die europäische Verfassung die Einfügung eines christlichen Gottesbegriffs forderte – jetzt um den Hinweis auf das jüdische Erbe zu erweitern. Dass damit das Narrativ nur noch mehr zu einer Waffe wird, lässt sich an den Auslassungen von Horst Seehofer zur gleichen Zeit erkennen. Für Horst Seehofer ist die Religion eine Waffe im Tageskampf der Kulturen: Das »Christlich-Jüdische« dient der Freund-Feindkennung. Deutschland wird zu einem Land stilisiert, in dem keine andere Religion Platz hat.
    So gerät das Narrativ endgültig zu einer virtuellen Festung – und das in einem Land, das – um nur drei Beispiele zu nennen – das weltweit am weitesten globalisiert ist, das über 6,7 Millionen “Ausländer” und weitere Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund aufweist. Es ist zwar ein sozialer Mythos ohne Realitätsgehalt, aber eine politische Waffe, die tatsächlich eine virtuelle Festung beschwört. In der aktuellen Situation zielt dieses Narrativ in vier Richtungen:
        a) Es dient zur Abgrenzung gegen eine multikulturelle Gesellschaft und sichert damit die Kontinuität zur “Nationalen Identität” und letztlich zur nationalen Traditionen des 19. Jahrhunderts.
        b) Es fördert die Selbstinszenierung der eigenen Größe und ermöglicht damit die Abgrenzung gegenüber dem Rest der Welt, der diese Leitkultur nicht kennt und deshalb zwangsläufig weniger wert ist.
        c) Es funktioniert als Waffe gegen Einwanderung und hier insbesondere gegen eine Einwanderung aus “nichtwestlichen” vorzugsweise islamisch geprägten Ländern.
        d) Es dient zur Einstimmung auf ein gesell-schaftliches Bewusstsein, in dem alltagsrassistische Auslassungen zur Selbst-verständlichkeit werden und die praktische Vernunft so imprägnieren, dass die Realitätsverweigerung zu einem Automatismus wird.
    Damit ist jedem klar, wie es weiter zu gehen hat: Integration bedeutet selbstverständlich Einpassung in die nationale Leitkultur. Mit der Mehrspra-chigkeit muss endlich Schluss sein. Längst gibt es den Vorschlag, Deutsch als National-sprache im Grundgesetz zu verankern2. Einwanderung muss endgültig verhindert werden, selbst wenn die Städte veröden. Die Frage ist, wie lange man noch auf einem Weltbild des 19. Jahrhunderts beharren kann.
   
   
   
   
   Fussnote:
   
    1 Bassam Tibi schreibt am 16.12. 2006 im Berliner Tagesspiegel unter dem Titel “Warum ich gehe”: “Auf Dauer fühle ich mich fremd in diesem Land und werde entsprechend behandelt... Ich wandere aus, weil ich dieses Fremdsein nach 44 Jahren nicht mehr ertrage.”
    2 Schon am 3.12.2008 notiert die Süddeutsche Zeitung: “Der Parteitagsbeschluss der CDU, der deutschen Sprache Verfassungsrang zu geben, stößt auf scharfe Kritik - nicht nur bei der Opposition. Selbst Parteichefin Merkel ist dagegen.” Und am 13.12. 2010 starten die Bildzeitung und der Verein Deutsche Sprache in Berlin eine entsprechende Petition.