Die Gaste, Ausgabe 17 / Mai-Juli 2011

Förderung der Mehrsprachigkeit und Migration

[Çokdilliliðin Desteklenmesi ve Göç]


Prof. Dr. Cristina ALLEMANN-GHIONDA
Universität zu Köln



Das Erlernen von zwei oder mehr Sprachen ist möglich


    Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung über Zwei- und Mehrsprachigkeit ist sicher, dass jeder Mensch eine mehr oder weniger entwickelte, allgemeine Sprachfähigkeit erwirbt, die sich dann auf die erste, die zweite, die dritte, etc. Sprache auswirkt. Je besser ein Kind gefördert wird, desto besser wird seine „common underlying proficiency“ (CUP) sein. Vor diesem Hintergrund ist es auch besser verständlich, dass ein Kind mit einer hoch entwickelten CUP ohne weiteres neben der Sprache seiner Eltern früh eine Zweitsprache (in Deutschland: Deutsch) oder eine Fremdsprache - zum Beispiel Englisch – lernen kann. Dabei spielen das Bildungsniveau und das sprachliche Verhalten der Eltern, aber auch das weiterer Personen im sozialen Umfeld, eine sehr große Rolle. Ebenso wichtig sind die Qualität und die Dauer der sprachlichen Förderung, die das Kind in der vorschulischen Institution und in der Schule (Cummins 1999).
    Wenn die Förderung in den beiden Sprachen nicht ausreichend ist, kann es zu einem „Semilingualismus“ oder zu einer „doppelten Halbsprachigkeit“ kommen. Üblich ist auch der Begriff „subtraktiver Bilingualismus“ (beiden Sprachen ‚fehlt’ etwas). Die schulischen Leistungen sind dann meistens nicht besonders gut. Wenn der Sprecher eine überdurchschnittliche zweisprachige Kompetenz entwickelt, dann liegt ein additiver Bilingualismus vor. Beide Sprachen sind gleich hoch entwickelt. Häufig hat ein solcher Zweisprachiger überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten (Beispiele in (Baker/Prys Jones 1998), S. 62 ff.), die sich auch als gute oder sehr gute schulische Leistungen äußern können, aber nicht müssen. Schüler/innen mit Migrationshintergrund sind oft in der Situation, dass ihre Zweisprachigkeit sich nicht auf hohem Niveau entwickeln kann, weil die Umstände für sie ungünstig sind.

Was geschieht, wenn bei einem zweisprachigen Kind die Familiensprache (L1) verkümmert?


    Viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind Gegenstand von Vorurteilen. Zum einen glauben viele Lehrpersonen, frühkindliche Zweisprachigkeit sei unmöglich oder von Nachteil. Dies wurde von der Forschung widerlegt. Manche glauben, dass die Sprachen der Migration nicht wichtig seien. Dieses Vorurteil lässt sich ebenfalls widerlegen. Jede Sprache ist genauso alt und hat genau den gleichen Wert wie jede andere (Fischer 2001). Selbst wenn in der Gesellschaft manche Sprachen mehr Prestige haben (allen voran die englische Sprache) ist das aus linguistischer und pädagogischer Sicht kein stichhaltiges Argument, um andere Sprachen (Türkisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Albanisch.... und weitere Tausende!) auszugrenzen oder gar zu verbieten.
    Für den einzelnen Sprecher – egal ob mit Migrationserfahrung oder nicht, ob Angehörige/r einer Minderheit oder einer Mehrheit - ist es von großer Bedeutung, sich auch sprachlich anerkannt und respektiert zu fühlen. Dadurch wird die sprachliche Entwicklung gefördert und die Identität stabilisiert. Trifft der umgekehrte Fall ein, wird dem Kind Schaden zugefügt, indem seine sprachliche und psychosoziale Entwicklung gehemmt wird. So gesehen, ist die unter Lehrpersonen und Politiker/innen verbreitete Entrüstung darüber, dass Migrant/innen zu Hause ihre eigene Herkunftssprache (und nicht die deutsche Sprache) sprechen, und die Erwartung, dass sie es tun sollten, unangemessen und unrealistisch.

Was geschieht, wenn bei einem zweisprachigen Kind die Schulsprache (L2) nicht angemessen gefördert wird?


    Eine ungenügende Förderung der Schulsprache (in Deutschland: der deutschen Sprache, für das Kind mit Migrationshintergrund L2) hat, wie allgemein bekannt, schwache schulische Leistungen zur Folge. Häufig werden diese Schwächen irrtümlich als kognitive Schwäche (mangelnde Intelligenz) ausgelegt. Folge: Ein Teufelskreis, aus dem das Kind sich meistens nicht erholen kann. Wird dem Kind einmal zu verstehen gegeben, dass es nichts kann, so wird sein Selbstbewusstsein leiden, es wird sich selbst aufgeben und erst recht keine sprachlichen und schulischen Fortschritte machen.

Bildungspolitische und pädagogische Empfehlungen


    Aus pädagogischer Sicht ist die Integration (nicht mit Assimilation zu verwechseln) von Schüler/innen mit Migrationshintergrund eine von der Schulpolitik chronisch unterschätzte Aufgabe, die seit Jahrzehnten am Mangel an koordinierter Umsetzung von Maßnahmen scheitert. Aus der international vergleichenden Forschung ergeben sich folgende Vorschläge: •
    • Prioritäten bei der Zuweisung von Geldern verlagern: Untere Stufen brauchen mehr Mittel, weil im frühen Alter das Fundament der Bildung gelegt wird; •
    • Qualifizierte Sprachförderung L1 und L2 in der vorschulischen Erziehung (ab dem Alter von 3 Jahren); •
    • Grundschule: Ganztagsmodell, jedoch nicht als Parkplatz, sondern pädagogisch begründet und gestaltet (Stecher u.a. 2009); •
    • Gemeinschaftsschule oder ähnliche Modelle statt einer frühen Selektion; •
    • Differenzierte, qualifizierte und nachhaltige Förderung in der deutschen Sprache (alle Stufen, Langzeitprogramm) nach den Methoden der Zweitsprachdidaktik; •
    • Muttersprachlicher Unterricht (MSU) in Sprachen der Migration akzeptieren, zulassen, integrieren, besser qualifizieren, mit dem Deutschunterricht abstimmen; •
    • Wenn die Umstände es ermöglichen: zweisprachige Alphabetisierung; •
    • Interesse an Mehrsprachigkeit wecken – dies betrifft alle Schüler/innen; •
    • Frühenglisch: nichts spricht dagegen, wenn die Lehrpersonen qualifiziert sind; •
    • Ausbildung der Lehrpersonen: Mehrsprachigkeit und Interkulturalität als Bestandteil des Kerncurriculums Erziehungswissenschaft festschreiben; •
    • Diagnostik und Leistungsbeurteilung: bedarf der dringenden Professionalisierung (Allemann-Ghionda u.a. 2006) und muss deshalb in den Lehramtsstudiengängen verbindlich als Thema vorgesehen werden.
    Die meisten der oben aufgeführten Vorschläge lassen sich nicht kostenneutral umsetzen. Eine Förderung der Schüler/innen mit Migrationshintergrund in der deutschen Sprache, die wirksam und nachhaltig ist, muss über ein angemessenes Zeitkontingent verfügen (eine Wochenstunde reicht nicht aus) und von Lehrkräften betrieben werden, die sich in Didaktik der Zweitsprache (Schader 2000) weitergebildet haben. Auch die Förderung in den Herkunftssprachen muss professionell und nachhaltig erfolgen, wenn sie wirksam sein soll.

Zur Didaktik der Zweitsprache


    Sprachliche Förderung kann sich nicht in einem Schnellkurs erschöpfen, sondern muss unter Umständen über Jahre kontinuierlich betrieben werden. Wer Kinder und Jugendliche mit einer anderen Familiensprache als Deutsch unterrichtet, muss wissen, dass eine „exotische“ Aussprache und Grammatikfehler in der deutschen Sprache nicht etwa auf allgemeine Dummheit oder Begriffsstutzigkeit – und schon gar nicht auf kulturelle Inkompatibilitäten - zurückzuführen sind, sondern ganz einfach damit zu tun haben, dass ihre Familiensprache grammatikalischen, phonologischen, Gesetzen folgt, die von denen der deutschen Sprache verschieden sind – vom Aufwand, einen komplett neuen Wortschatz auswendig zu lernen, ganz zu schweigen. Es kann auch sein, dass Schüler/innen keine Gelegenheit bekommen haben, ihre Familiensprache korrekt zu lernen, etwa weil das Leben in der Migration zu sprachlichen Vermischungen verleiten kann (code-switching). Deshalb können Schüler/innen mit einer gemischten sprachlichen Biographie nicht einfach mit schwimmen, sondern sie brauchen einen auf sie zugeschnittenen Unterricht. Merkmale der deutschen Sprache, die für „Muttersprachler/innen“ selbstverständlich sind, fehlen in vielen Sprachen und müssen ausdrücklich und systematisch erklärt werden, so etwa: die Fälle, das Vorhandensein von Artikeln (die zu allem Überfluss Maskulin, Feminin und Neutrum kennzeichnen), die Verbstellung, die unregelmäßigen Konjugationen und Deklinationen u. v. a. m. Spiegelbildlich müssen deutschsprachige Kinder, die zum Beispiel in Frankreich beschult werden, völlig verschiedene Sprachmerkmale erlernen, und es ist vielleicht eine hilfreiche mentale Übung, sich in deren Lage zu versetzen. Das Erlernen einer neuen Sprache – auch der Sprache der Umgebung - ist aufwendig und erfolgt müheloser, weil spontaner, im frühen Kindesalter als in späteren Phasen. Oft müssen aber Schüler/innen unterrichtet werden, die in der ersten Grundschulklasse oder später die deutsche Sprache kennen lernen – jedenfalls in der schulsprachlichen Variante. Dieser Umstand darf nicht dazu verwendet werden, die Eltern der Erziehungs- oder der Integrationsunfähigkeit zu beschuldigen. Von erwachsenen Zugewanderten, die oft wenig formale Bildung erfahren haben, kann nämlich nicht erwartet werden, dass sie ihren Kindern korrektes Standarddeutsch beibringen, ebenso wie von deutschen Eltern im Ausland nicht erwartet wird, dass sie ihren Kindern zum Beispiel makelloses Französisch beibringen. Sprachförderung ist Sache der Schule und – so vorhanden - der vorschulischen Institutionen. Bei der Förderung in der deutschen Sprache muss zudem beachtet werden, dass Seiteneinsteiger/innen andere Voraussetzungen mitbringen als hier Aufgewachsene. Oft haben sie eine gute Schulbildung genossen, oft haben sie sehr gute Kompetenzen in ihrer Familiensprache, weil sie in ihrem Herkunftsland sprachlich und schulisch sozialisiert worden sind; daher kann die Deutschförderung bei Seiteneinsteigern oft auf einer solideren Grundlage als bei Migrant/innen der zweiten und dritten Generation aufgebaut werden.

Schlussbemerkungen


    Mehrsprachigkeit – mit den beiden wichtigsten Aspekten der Förderung der deutschen Sprache und der Herkunftssprachen - kann und muss gefördert werden, aber dies ist nur möglich, wenn die Lehrpersonen und die Schulen angemessen (nicht nur materiell, sondern auch hinsichtlich der Aus- und Fortbildung) ausgestattet werden. Die Integration der Erwachsenen und der Jugendlichen kann mit Sicherheit nicht durch sprachliche Ge- und Verbote oder durch wie auch immer geartete eiserne Besen vorangetrieben werden. Um Erwachsene – darunter Eltern - für den Erwerb der deutschen Sprache zu motivieren, bedarf es staatlich geförderter, geeigneter Programme, die sprachdidaktisch auf die unterschiedlichen Bildungsniveaus geeicht sind. Auch zu letzterem Punkt kann auf eine reichhaltige Literatur und auf Beispiele der best practice - auch im Ausland - zurückgegriffen werden (Allemann-Ghionda/Pfeiffer 2008) ; (Allemann-Ghionda 2008). Die Zusammenarbeit von Schulpolitik, Erziehungswissenschaft und Schulpraxis muss und kann diesbezüglich verbessert werden.


    Literatur
   Allemann-Ghionda, C. (Zweite, durchgesehene2002): Schule, Bildung und Pluralität: Sechs Fallstudien im europäischen Vergleich. Bern (u.a.): Lang.
    Allemann-Ghionda, C. (2008): Intercultural Education in Schools. In cooperation with Deloitte Consulting. With Sarah Rühle and Jan-Matthias Threin. Brussels: European Parliament.
    Allemann-Ghionda, C./Auernheimer, G./Grabbe, H./Krämer, A. (2006): Beobachtung und Beurteilung in soziokulturell und sprachlich heterogenen Klassen - Die Kompetenzen der Lehrpersonen. In: Zeitschrift für Pädagogik (Beiheft 51), S. 250-266.
    Allemann-Ghionda, C./Pfeiffer, S. (Hrsg.) (2008): Bildungserfolg, Migration und Zweisprachigkeit - Perspektiven für Forschung und Entwicklung. Berlin: Frank & Timme.
    Baker, C./Prys Jones, S. (1998): Encyclopedia of Bilingualism and Bilingual Education. Clevedon: Multilingual Matters.
    Cummins, J. (1999): Alternative Paradigms in Bilingual Education Research: Does Theory Have a Place? In: Educational Researcher 28 (7), S. 26-32.
    Fischer, S. R. (2001): Eine kleine Geschichte der Sprache.(Simon, A., Übers.). Frankfurt & New York: Campus.
    Schader, B. (2000): Sprachenvielfalt als Chance: Handbuch für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen. Hintergründe und 95 Unterrichtsvorschläge für Kindergarten bis Sekundarstufe I. Zürich: Orell Füssli.
    Stecher, L./Allemann-Ghionda, C./Helsper, W./Klieme, E. (Hrsg.) (2009): Ganztägige Bildung und Betreuung. Zeitschrift für Pädagogik, 54. Beiheft. Weinheim & Basel: Weinheim.


    Die Autorin
    Prof. Dr. Cristina Allemann-Ghionda lehrt an der Universität zu Köln Vergleichende Erziehungswissenschaft. „Mehrsprachigkeit und Bildung“ ist einer der Schwerpunkte ihrer Lehre und Forschung. Sie ist mehrsprachig aufgewachsen, hat vor der Habilitation in Erziehungswissenschaft in Germanistik promoviert und sich – davor - intensiv, als Forscherin sowie als Lehrerin, mit der sprachlichen Situation von Migrant/innen (Erwachsene und Kinder) beschäftigt. Unter ihren frühen Publikationen befinden sich sprachdidaktische Schriften.
E-mail: cristina.allemann-ghionda@uni-koeln.de
http://www.hf.uni-koeln.de/30574