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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 19 / November-Dezember 2011

Selektion oder Förderung?
Sprachstandserhebungen im Vorschulalter
[ Seçme mi? Destek mi? Okul Öncesi Dil Seviyesini Belirleme Ýncelemeleri]

Prof. Dr. Drorit LENGYEL
[Universität Hamburg
Fakultät für Erziehungswissenschaft
Psychologie und Bewegungswissenschaft, Arbeitsbereich interkulturelle Bildung ]


   Vorschulische Sprachstandserhebungen haben seit der ersten PISA-Studie des Jahres 2000 Konjunktur und werden seitdem kontrovers diskutiert – in der Bildungspolitik, der (Fach-) Öffentlichkeit und der pädagogischen Praxis. Die alarmierenden Befunde zur Lesekompetenz 15-jähriger Schülerinnen und Schüler im deutschen Schulsystem führten zu einer Reihe bildungspolitischer Maßnahmen. Ein Hauptaugenmerk lag (und liegt) dabei auf den vorschulischen Maßnahmen zur Sprachförderung und der Durchführung von Sprachstandserhebungen. Diese richten sich besonders an Kinder mit Migrationshintergrund, die mit einer anderen Sprache als Deutsch, also zwei- und mehrsprachig, aufwachsen.
   
    1. Zwecke von Sprachstandserhebungen
   
   Mit Sprachstandserhebungen werden unterschiedliche Zwecke verbunden – zum einen bildungspolitische, zum anderen pädagogische Zwecke; beide lassen sich nicht umstandslos miteinander verbinden.
   Die bildungspolitischen Zielsetzungen dienen vor allem der Legitimation von Entscheidungen über die Zuweisung und Verteilung von Mitteln, Ressourcen (z.B. Arbeitsstunden) und Förderangeboten. Hier stehen Aspekte der Steuerung und Organisation von Prozessen öffentlich verantworteter Bildung im Vordergrund. Aufgrund der föderalen Struktur des Bildungswesens liegen in den 16 Bundesländern mindestens ebensoviele unterschiedliche Erhebungsinstrumente bzw. Empfehlungen zur Verfahrensverwendung vor.
   Ein prominentes Beispiel aus Nordrhein-Westfalen, das als Top-Down-Strategie vor allem Zwecke der Systemsteuerung verfolgt, ist die Sprachstandserhebung „Diagnostik, Elternarbeit, Förderung der Sprachkompetenz in NRW bei 4-jährigen – Delfin 4“, ein Verfahren, das den Sprachstand Vierjähriger misst und flächendeckend in Kindertageseinrichtungen zum Einsatz kommt.1 Ziel des zweistufigen Verfahrens ist es, jene Kinder herauszufiltern, deren Sprachkompetenz nicht altersgemäß entwickelt ist, um sie einer zusätzlichen Förderung bereits zwei Jahre vor Schuleintritt zuführen zu können. Auf Basis der Ergebnisse können Land und Kommunen personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen auf die Einrichtungen verteilen, um diese zusätzliche Förderung zu ermöglichen. Das Verfahren ist erheblicher Kritik ausgesetzt gewesen, insbesondere von Seiten der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte, z.B. bezüglich der konstruierten Spielsituation oder des Einsatzes von Ressourcen, da die Testung jeweils durch eine Erzieherin und eine Grundschullehrerin erfolgt.
   Aus wissenschaftlicher Sicht ist anzumerken, dass das Instrument eine Reihe von wichtigen Kriterien erfüllt, die an diagnostische Verfahren gestellt werden. Das betrifft die messmethodische Absicherung und testtheoretische Güte. Mit Blick auf Kinder mit Migrationshintergrund, die mehrsprachig aufwachsen, ist allerdings fraglich, ob Delfin 4 deren Kompetenzen angemessen zu erfassen vermag. Denn die zugrunde liegende Sprachauffassung geht von einer altersgerechten Sprachkompetenz im Deutschen aus, also einer monolingualen muttersprachlichen Kompetenz, obwohl keine gesicherten Erkenntnisse darüber vorliegen, wie eine altersgerechte Sprachkompetenz in der Zweitsprache Deutsch bei vierjährigen Kindern aussehen sollte.
   Neben den bildungspolitischen Zwecken sind pädagogische Zwecke von Sprachstandserhebungen zu nennen. Die Erhebungen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse stehen im Dienste pädagogischer Entscheidungen, wobei die Annahme besteht, dass die Ergebnisse für das erfolgreiche pädagogische Handeln bedeutsam sind. Es geht dabei vor allem um die Planung und Individualisierung von Unterstützungsangeboten und die Begleitung und Dokumentation von Lernprozessen. Es handelt sich also um genuin pädagogische Aufgaben, die durch die Verwendung von Sprachstandserhebungen besser als ohne diese erfüllt werden sollen. Es geht weniger um das Aussortieren bestimmter (Risiko-) Kinder, die in einer zusätzlichen Maßnahme gefördert werden, sondern darum, alle Kinder im Vorschulalter in ihrer Sprachaneignung zu unterstützen. Dadurch stehen begleitende, prozessorientierte Maßnahmen wie Beobachtungen (wie z.B. der Beobachtungsbogen SISMIK2 ) im Vordergrund. Ziel ist es, den Stand der Sprachaneignung differenziert und systematisch zu beschreiben, wobei die Frage im Mittepunkt steht, was die Kinder in ihrer Entwicklung bereits erreicht haben.
   
    2. Der fachöffentliche Diskurs aus Sicht der interkulturellen sprachlichen Bildung
   
   Die Einbeziehung von Sprachstandserhebungen als eine Maßnahme der sprachlichen Bildung erscheint zunächst sinnvoll, soll nicht, wie es seit langem gängige Praxis ist, Förderung unspezifisch nach dem „Gießkannenprinzip“ erfolgen. Dennoch lassen sich aus Sicht der interkulturellen sprachlichen Bildung einige Verkürzungen im fachöffentlichen Diskurs feststellen, wenn es um mehrsprachige Kinder geht.
   So ist der Blick vorrangig auf den Erwerb und die Förderung des Deutschen als Zweitsprache gerichtet. Durch Sprachstandserhebungen, wie sie derzeit durchgeführt werden, werden Kindern, die mehrsprachig aufwachsen, wieder und wieder „mangelnde Deutschkompetenzen“ und „Sprachdefizite“ bescheinigt – Sprachkompetenz wird auf Deutschkompetenz reduziert. Damit wird in der Fachöffentlichkeit eine stigmatisierende Sichtweise auf Migrantenkinder befördert, deren vermeintliche Defizite in kompensatorischen Förderprogrammen behoben werden sollten. Es wird suggeriert, dass die Kinder etwas nachholen müssen, was sie eigentlich hätten erwerben müssen. Dabei gibt es – wie oben bereits angedeutet – kein gesichertes spracherwerbstheoretisches Wissen darüber, zu welchem Zeitpunkt die Zweitsprache Deutsch wie ausgebildet sein muss, was sich u.a. durch die heterogenen Ausgangslagen und Zeitpunkte des Erwerbsbeginns begründet. Die Argumentation im fachöffentlichen Raum fördert ein Denken, in dem Problemlagen, die vor allem auf gesellschaftliche, soziale und strukturelle Missstände zurückzuführen sind, als individuelle Probleme umgedeutet werden, für die die Kinder und ihre Familien selbst verantwortlich gemacht werden. Betrachtet man beispielsweise die Verteilung von Kindern mit Migrationshintergrund in den elementaren Bildungseinrichtungen unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit zeigt sich, dass 30% aller Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch Einrichtungen besuchen, in denen 50% und mehr Kinder mit anderen Erstsprachen betreut werden.3 Dies kann zu einer – im Hinblick auf den Zweitspracherwerb – prekären Erwerbssituation führen, die nicht mit dem (monolingualen) Erwerb des Deutschen im familiären Kontext verglichen werden kann. Naheliegender als die stigmatisierende Betrachtung von Kindern mit Migrationshintergrund in der fachöffentlichen Debatte wäre es aus Sicht der interkulturellen sprachlichen Bildung, die Zwecke und Verwendungszusammenhänge der Erhebungsverfahren, die dort bemühten Sprachauffassungen sowie die Eignung für die entsprechende Zielgruppe zu prüfen. Begutachtet man unter diesen (und weiteren) Kriterien die verfügbaren Instrumente, muss konstatiert werden, dass das Gros der Instrumente sich auf monolinguale Normalitätserwartungen stützen, die sich an der monolingualen Sprachentwicklung im Deutschen und den damit einhergehenden Sprachaneignungssituationen und -konstellationen orientieren. Bei Kindern, die mit mehr als einer Sprache aufwachsen, können sie daher zu verfälschten Ergebnissen und Fehlannahmen über ihre Sprachaneignungspotentiale führen.
   Der ausschließliche Fokus auf die deutsche Sprache spiegelt den gesellschaftlichen und institutionellen Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit wider. Die sprachenpolitische Strategie, die die Bildungsinstitutionen und ihre Akteure hier anwenden, lässt sich immer noch am besten mit dem von Ingrid Gogolin4 geprägten Begriff des „monolingualen Habitus“ beschreiben. Aus Sicht der interkulturellen sprachlichen Bildung ist zu klären, wie der Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in Sprachstandserhebungen gestaltet werden kann, so dass die spezifische Erwerbssituation des mehrsprachigen Aufwachsens und die Potentiale der Kinder zur Geltung kommen können.
   
    3. Sprachstandserhebungen und sprachliche Bildung im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit
   
   Ein Ziel sollte es sein, auch die Herkunftssprachen bei der Erfassung des Sprachstands einzubeziehen. Hierfür sind Instrumente erforderlich, mit denen zentrale Aneignungsschritte in unterschiedlichen sprachlichen Teilbereichen erfasst werden können. Von Seiten der (Migrations-) Linguistik schlägt Konrad Ehlich folgende Vorgehensweise vor: „Bei Kindern, die eine andere Familiensprache als Deutsch haben, sind beide Sprachen in die regelmäßigen Sprachstandsfeststellungen einzubeziehen. Durch parallele Anlage der Feststellungsverfahren sind Vergleiche zwischen den jeweiligen Kompetenzniveaus in jeder der beiden Sprachen anzuzielen.“5 Dies wird beispielsweise im „Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands Fünfjähriger HAVAS 5“6 umgesetzt. Die parallele Anlage hat vor allem den Vorteil, dass Kompetenzen in den Herkunftssprachen der Kinder sichtbar werden und Förderentscheidungen auch auf dieser Basis getroffen werden können.
   Vergleichende Sprachstandserhebungen stellen einen Schritt dar, um Migrantensprachen wahrzunehmen und ihre Legitimität nicht nur als lebensweltlich relevante Sprachen anzuerkennen. Insgesamt sollte es darum gehen, die Sprachen der Kinder nicht gegeneinander auszuspielen. Die Aneignung der Umgebungssprache Deutsch und die Förderung von Mehrsprachigkeit schließen sich nicht aus – gerade im Elementarbereich gibt es hierzu vielfältige Möglichkeiten. Kinder im Vorschulalter haben in der Regel Interesse an Sprachen und deren Erforschung; dieses gilt es aufgreifen und für den Umgang mit mehreren Sprachen zu nutzen. Dies bedeutet nicht Fremdsprachen zu unterrichten, sondern das Spiel mit Sprachen zu fördern und die kindliche Neugier im Umgang mit Dialekten, Varietäten und verschiedenen Sprachen in sprachpädagogisches Handeln zu integrieren.
   Sprachstandserhebungen bieten eine Grundlage für die sprachliche Bildung sowie für die Anlage und Durchführung individueller und passgenauer Förderung. Dennoch müssen sich Akteure im Bildungswesen darüber im Klaren sein, dass pädagogische Maßnahmen nicht soziale und gesellschaftliche Probleme lösen und sie dementsprechend nicht politisches Handeln im Kontext sozialer Ungleichheit ersetzen können. Mit begleitenden Sprachstandserhebungen und Maßnahmen der sprachlichen Bildung können Bildungsinstitutionen und ihre Akteure jedoch den pädagogischen Spielraum nutzen, den sie besitzen, um die Chancengerechtigkeit für alle Kinder zu erhöhen.
   
   
    Fussnoten:
    1 Fried, L. 2006.
    2 Ulich, M/Mayr, T. 2004.
    3 Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bielefeld: Bertelsmann Verlag, s. 53.
    4 Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann.
    5 Ehlich, K. (2007): Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Bonn, Berlin: BMBF, s. 47.
    6 Reich, H.H./Roth, H.-J. 2004.