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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 23 / September-Oktober 2012

Sind zwei Sprachen besser als eine?
[Ýki Dil Tek Dilden Daha mý Ýyidir?]


Prof. Dr. Elin FREDSTED
(Universität Flensburg)


Der folgende Artikel beschäftigt sich mit der Diskussion, ob Zweisprachigkeit für Heranwachsende als Vorteil oder als Nachteil zu betrachten ist. Mit anderen Worten: was bedeutet eine Erziehung mit zwei Sprachen für die sprachliche Entwicklung eines Kindes? Die Fallbeispiele, die ich anführen werde, stammen aus der dänischen Minderheit in Deutschland. Die Fragestellung aber ist sehr allgemein und so auch auf Kinder mit Migrationshintergrund übertragbar.

    Traditionell fokussieren Studien der sprachlichen Entwicklung bei bilingualen Kindern darauf, welche Faktoren für die Entwicklung der kindlichen Sprachkompetenz in zwei Sprachen förderlich oder eher hinderlich sind. Allgemein sind viele Sprachpädagogen der Ansicht, dass eine Trennung beider Sprachen in der nahen Umwelt des Kindes vorteilhaft ist, wenn es darum geht, eine hohe Kompetenz in beiden Sprachen zu erreichen und ‚Sprachmischungen‘ zu vermeiden. Deshalb wird oft das Prinzip ‚eine Person – eine Sprache‘ empfohlen, wenn es um Eltern und Lehrer geht; oder es wird eine klare räumliche Trennung der Sprachen empfohlen, so wie es auch in einigen dual-biliteracy-Schulen praktiziert wird. Die neuere Forschungsliteratur betrachtet jedoch die sprachliche Sozialisation des bilingualen Kindes als einen integrierten Prozess, in dem das Kind nicht nur die beiden Sprachsysteme erwirbt, sondern gleichzeitig auch Regeln dafür, wie man die Sprachen ‚manipulieren‘ kann und wann welche Sprache wie zu benutzen ist. Daraus lässt sich schließen, dass eine zweisprachige Erziehung eigentlich die sprachliche Bewusstheit des Kindes fördert.

    Wenn man in der Forschungsliteratur nachschaut, findet man keine eindeutige Definition von sprachlicher Bewusstheit. Auf Deutsch wird seit Mitte der 80er Jahre öfters die Bezeichnung Sprachbewusstheit verwendet (z.B. von Helga Andresen 1985), die als eine Fähigkeit verstanden wird, die sich auf Grund der bewussten und aufmerksamen Auseinandersetzung mit Sprache entwickelt. Auf Englisch gibt es eine Vielzahl von Begriffen (z.B. language/linguistic awareness). Zentral für diese Begriffe ist die Fähigkeit, auf sprachliche Formen, Funktionen und Bedeutungen aufmerksam zu werden und darüber zu reflektieren und nachzudenken.

    Schon Anfang der 30er Jahre beschäftigte sich der russische Psychologe Lev S. Vygotsky mit der Frage, ob bilinguale Kinder eine andere Sprachbewusstheit als monolinguale entwickeln. Seitdem hat diese Frage viele Linguisten und Psychologen beschäftigt. Vygotsky führte das sog. sun-moon-Experiment des Entwicklungspsychologen Piaget mit mono- und bilingualen Kindern durch (Piaget 1929, Vygotsky 1934). Das Experiment untersucht Bewusstheit über den Zusammenhang zwischen Wort, Bedeutung und Gegenstand. Das Ziel des Experiments ist es, 1) das Wissen der Kinder über die Funktion der Wörter zu untersuchen, 2) zu beurteilen, inwiefern die Kinder die arbiträre Verbindung zwischen Wort/Zeichen einerseits und dem mit dem Wort bezeichneten Gegenstand (Referenzobjekt) andererseits verstehen, also die Tatsache dass ein Objekt unterschiedlich benannt werden kann, z.B. als Hund oder köpek. Dass das Verhältnis zwischen Inhalt und Form, zwischen Referenzobjekt und Zeichen arbiträr und konventionell ist, bedeutet, dass diese Relation nicht ‚natürlich‘ gegeben ist, sondern auf die sprachliche Konvention einer Sprachgemeinschaft zurückgeht. Die Methodik des Experimentes besteht darin, die Bezeichnungen für Gegenstände, die den Kindern bekannt sind, auszutauschen – also z.B. die Wörter für Sonne und Mond. Die Kinder können nur die Aufgabe korrekt lösen, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form fokussieren und vom Inhalt lösen. Vygotskys Hypothese ist, dass bilingual aufwachsende Kinder besser verstehen, dass die Beziehungen zwischen dem sprachlichen Zeichen und dem Referenzobjekt konventionell und arbiträr ist und folglich ein sprachlicher Ausdruck durch einen anderen ersetzt werden kann. Monolingualen Kindern fällt es dagegen schwerer, das Ersetzen eines Ausdrucks durch einen anderen zu akzeptieren.

    Eine Studentin des Faches Dänisch an der Universität Flensburg, Finja Thomsen, führte im Jahr 2011 ein kleines Experiment mit 10 Kindergartenkindern nach der Methodik von Vygotsky durch. Sie wählte für das Experiment zwei benachbarte Kindergärten in einem Vorort von Flensburg aus. Der eine Kindergarten ist monolingual deutschsprachig mit überwiegend monolingualen Kindern. Der andere ein Kindergarten der dänischen Minderheit mit Kindern, die zweisprachig aufwachsen.

    Die kleine Untersuchung war in drei Phasen eingeteilt: Zuerst wurden die Kinder gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, dass man die Namen der Dinge austauchen könne. In der zweiten Phase erzählte die Studentin, dass sie jetzt die Bezeichnungen für Hund und Katze austauchen würde, so dass der Hund jetzt Katze heißt und die Katze Hund. Drittens wurden die Kinder dann gefragt, welche Laute jetzt die Katze bzw. der Hund macht.

    In allen drei Phasen der Untersuchung gab es signifikante Unterschiede: Die zweisprachig aufwachsenden Kinder konnten sich alle gut vorstellen, dass man mit Sprache so spielen kann, dass die Bezeichnungen ausgetauscht werden. Spielerisch fingen sie sofort selbst an, verschiedene Beispiele zu geben (z.B. Rakete für Schaukel). Als die Studentin dann das Katze-Hund-Spiel erklärte, fanden es die Kinder lustig und wollten gerne mitmachen. Bei der abschließenden Frage, welche Laute dann die Katze bzw. der Hund mache, antworteten vier von fünf Kindern korrekt, dass die Katze ‚wuff‘ und der Hund ‚miau‘ sage.

    Drei der fünf monolingual aufwachsenden Kinder lehnten von Anfang an den Gedanken ab, dass man Bezeichnungen für Gegenstände umtauschen kann, weil „die Wörter dann nicht mehr stimmen“. Ein Kind war sehr unsicher und zurückhaltend. Nur ein Kind von fünf sagte ja und schlug selbst alternative Begriffe vor, blieb jedoch (anders als die bilingualen Kinder) innerhalb desselben Wortfeldes (Schemel für Stuhl). Auf die Frage, welche Laute nun die Katze bzw. der Hund mache, antworteten vier von fünf Kindern nicht korrekt. Nur das Kind, der selbst alternative Begriffe vorgeschlagen hatte, antwortete korrekt, dass die Katze ‚wuff‘ und der Hund ‚miau‘ sage. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass für monolinguale Kinder im Kindergartenalter Objektbezeichnungen noch als ’Eigenschaften‘ von den Objekten aufgefasst werden, die man nicht verändern darf oder kann. Bilinguale Kinder, dagegen, können akzeptieren, dass die Bedeutung eines Wortes eine Konvention ist, die man verändern kann, wenn man will. Im sun-moon-Experiment geht es darum, inwiefern die Kinder in der Lage sind, auf das Wort/Zeichen zu fokussieren, ohne von Bedeutungen distrahiert zu werden, die im konkreten Zusammenhang der gestellten Aufgabe irreführend oder irrelevant sind.

    In ihrem Buch Bilingualism in Development (2001) unternimmt die Kanadierin Ellen Bialystok eine Differenzierung des Begriffs der sprachlichen Bewusstheit. Sie stellt die Frage, wie Wissen über (meta) Sprache sich von dem unterscheidet, was man normalerweise als die Fähigkeit, eine Sprache korrekt zu benutzen oder auch als explizites grammatisches Wissen bezeichnet (Bialystok 2001: 123ff). Nach ihrer Auffassung bezeichnet metalinguistic knowledge Wissen über Sprache in einer generelleren und abstrakteren Bedeutung. In diesem Zusammenhang unterscheidet sie grundlegend zwischen analysierenden und kontrollierenden Fähigkeiten. Sie diskutiert in ihrem Buch große Teile der relevanten Forschungsliteratur des 20. Jahrhunderts mit Hinblick auf die Frage, ob ein Test oder ein Experiment mit Bilingualen (meist bilingualen Kindern) analytische oder kontrollierende Fähigkeiten getestet haben und inwiefern die Ergebnisse darauf hindeuten, dass mehrsprachige Individuen schlechter oder besser als Monolinguale abscheiden. Die Ergebnisse der kritischen Sichtung der Forschungsliteratur und nicht zuletzt der eigenen Forschung (Status 2001) lassen Bialystok zu der Schlussfolgerung kommen, dass Bilinguale in Tests und Experimenten besser abschneiden, die eine erhöhte Kontrolle erfordern. Kontrolle definiert Bialystok als “the ability to selectively attend to specific aspects of a representation, particularly in misleading situations.” (Bialystok 2001: 131).

    Von einem kognitiven Gesichtspunkt ist damit auch indirekt angedeutet, dass die Kontrollfunktion des Gehirns bei Bilingualen einen besonderen Einsatz leisten muss, um Wortmaterial der nicht-gewählten Sprache, unerwünschte Bedeutungen oder irreführende Konzepte zu unterdrücken. Dies scheint ebenfalls von neueren hirnneurologischen Untersuchungen bestätigt zu werden, die gerade eine erhöhte Aktivität in den Kontrollzentren des Gehirns feststellen, wenn Testpersonen mit bilingualen Sprachdaten konfrontiert werden. Bialystok stellt auch die Frage, ob diese besondere Kontrollfähigkeit auch von Vorteil sein kann, wenn Kinder lesen und schreiben lernen. Denn gerade das Erlernen der Schriftsprache in alphabetischen Sprachen wie Deutsch oder Türkisch setzt voraus, dass man die Schriftzeichen als symbolische Repräsentation der Sprache verstehen kann. Erleichtert eine frühere oder besser entwickelte Abstraktionsfähigkeit oder eine verstärkte sprachliche Kontrollfähigkeit den Zugang der bilingualen Kinder zur der symbolischen Repräsentation, die die Schriftsprache ausmacht? Wenn das der Fall ist, sollte der Schriftsprachunterricht in der Grundschule auch diese Fähigkeiten erkennen und sie als Chance nutzen. Auf jeden Fall ist eine solche Abstraktionsfähigkeit unerlässlich, wenn es darum geht, eine neue Sprache zu lernen.

    Doch muss man am Ende noch fragen, warum es eigentlich einen Unterschied zwischen monolingualen und bilingualen Kindern überhaupt in Verbindung mit der sprachlichen Bewusstheit geben sollte? Um zwei Sprachen, die gleichzeitig im Gehirn aktiviert sind, auseinander zu halten, muss der bilinguale Sprecher ständig sowohl auf sprachliche Form als auch auf sprachliche Bedeutung fokussieren. Dies ist eine Erfahrung, die grundlegend alle bilingualen Sprecher begleitet. Diese Erfahrung macht es möglicherweise einfacher für die bilingualen Sprecher, Sprache als formales System zu verstehen, die Aufmerksamkeit auf Form und Bedeutung der beteiligten Sprachen zu richten, und ganz sicher fördert es – nicht nur unter Kindern und Jugendlichen – die Lust und Neigung, mit Sprache spielerisch umzugehen und mit den Möglichkeiten der Sprachen zu experimentieren.

    Um die positiven Effekte und kognitiven Vorteile des Bilingualismus bei Kindern zu erzielen, ist es allerdings von großer Bedeutung, dass die Kinder so früh wie möglich in beiden Sprachen einen altersgerechten und ausgewogenen Input bekommen. Hier bietet auch der Besuch einer Kinderkrippe und eines Kindergartens, in der/dem die Zweitsprache gesprochen wird, (insbesondere für Kinder überwiegend monolingualer Eltern) eine gute Möglichkeit. Wenn nämlich der sprachliche Input in der einen Sprache zu gering ist, entwickelt sich bei einem Kind nur schwer eine produktive Mehrsprachigkeit.

   
   
     
     
     

    Literatur

    Andresen, H. (1985) Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewusstheit. Opladen: Westdeutscher Verlag.

    Bialystok, E. (2001) Bilingualism in development. Language, literacy & cognition. Cambridge: Cambridge University Press.

    Piaget, J. (1983) Sprechen und Denken des Kindes. Frankfurt, Berlin: Ullstein (Franz. Original 1923)

    Vygotsky, L. S. (1962) Thought and language. Cambridge, MA: MIT Press (Russ. Original 1934)