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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 27 / Mai-Juli 2013

Soziale Ungleichheit, Hierarchisierung und Mehrfachdiskriminierung
ein intersektioneller Zugang
[Toplumsal Eþitsizlik, Sýradüzeni ve Çok Yönlü Ayrýmcýlýk: Kesiþimsel Bir Ýliþki]


Dr. Safiye YILDIZ
(Universität Tübingen Institut für Erziehungswissenschaft)




Existierende ökonomische und soziale Ungleichheiten bedingen soziale Hierarchisierungen bzw. Unterschichtungen der Bevölkerungsgruppen. Soziale Ungleichheiten und Hierarchisierungen zwischen Menschen sind keine naturgegebenen Phänomene. Sie werden gesellschaftsstrukturell erzeugt. Der ungleiche Zugang zu gesellschaftlichen Gütern, Ressourcen, kulturellen Artikulationen und Bildung sind Indizien für gesellschaftspolitisch regulierte Ungleichheitsverhältnisse. Diese ungleichen Bedingungen manifestieren unterschiedliche soziale Platzierungen und Positionierung von Menschen in der Gesellschaft, die durch ein Über- und Unterordnungsverhältnis gekennzeichnet sind und die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander entsprechend einer Hierarchisierungsmatrix, die durch dichotome Unterscheidungspraxis erfolgen, beeinflussen. Soziale Hierarchisierungen sind beispielsweise in den Geschlechterverhältnissen und dem Verhältnis zwischen Mehrheiten und Minderheiten präsent.

Soziale Ungleichheiten und soziale Hierarchisierung bzw. soziale Unterschichtungen stehen in einem relationalen Verhältnis zu strukturellen Ungleichheiten und können nicht als voneinander unabhängige gesellschaftliche Problemfelder in Betracht kommen.

Hierbei stellt sich die Frage, wie die strukturell erzeugten Ungleichheiten begründet und normalisiert werden, dass sie nicht als solche dem Bewusstsein und Wahrnehmung der Menschen zugänglich werden. Diese implizite Denksperre hängt mit Diskursen und Wissen zusammen, die über die jeweiligen Gruppen in der Gesellschaft kursieren und durch eine Differenzierungspraxis gekennzeichnet sind. Diese Differenzierungspraxen konstituieren Geschlechterunterschiede, Klassenunterschiede und ethnische Unterscheidungen, die wiederum strukturell erzeugte Differenzierungen reproduzieren. Je nachdem, wie diese Diskurse geführt werden und welches Wissen über die jeweiligen Bevölkerungsgruppen im Umlauf sind, beeinflussen sie Bewusstseinsprozesse, Sichtweisen und Wahrnehmungen der Menschen. Diskurse sind Repräsentations- und Kommunikationsmittel, mit Hilfe derer sich Personen oder Menschengruppen sich selbst und Andere unterschiedlich hervorbringen und platzieren. Damit finden Abgrenzungs- und Zuordnungsprozesse statt. Wenn beispielsweise eine Person sich als Deutsche definiert, so grenzt sich dieser von Nicht-Deutschen ab und schließt Letztere ob intentional oder implizit von der Zugehörigkeit aus. Die Abgrenzung von Anderen und Ausschließung Anderer kann auf mehrere Differenzlinien beruhen, wie z.B. Staatsangehörigkeit, nationale Zugehörigkeit, nationalkulturelle Differenzen. So hat auch die Abgrenzung der Frauen von Männern oder umgekehrt eine lange Diskurstradition, die strukturelle Ungleichheiten legitimierten und legitimieren.

Es herrschte z.B. lange Zeit die Vorstellung, dass Frauen und Männer von Natur aus unterschiedliche Wesen sind, indem ihnen neben Körperunterschieden auch unterschiedliche Eigenschaften (Frauen sind geistig den Männern unterlegener, emotional, seien fürsorglich und mütterlich) zugeschrieben wurden. So wurde in Anlehnung an Naturwissenschaften eine männerdominierte Geschichte über Geschlechterdifferenzen geschrieben, in der Männer als rational denkende und den Fortschritt repräsentierendes Menschengeschlecht dargestellt wurden. Die Platzierung der Frauen in den privaten Bereich und untergeordneten Positionen in der Gesellschaft und die Platzierung der Männer in den öffentlichen Raum und höheren Positionen (beispielsweise in die Politik) ist historisch etabliert worden und aktuell existent.

Ähnliche hierarchische Unterscheidungen werden im Migrationskontext anhand von Kulturdifferenzen zwischen Migrant_innen und Deutschen gemacht und anhand von Mainstream geführten multikulturellen Diskursen semantisch gefüllt. Diskurse sind nicht neutral. Durch Heranziehung selektiver Kulturdifferenzen zwischen westlichen Kulturen und östlichen werden sie in ein polarisierendes hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt, indem die westliche Kultur als „zivilisiert“ und fortschrittlich, hingegen die östliche, die nach dem 11. September zunehmend mit islamischer Religion konnotiert wird, als „unizivilisiert“ und rückschrittlich repräsentiert wird. Diese kollektivierenden und wertenden Zuschreibungen konstituieren ein hierarchisches Beziehungsverhältnis zwischen sogenannten Deutschen und Migrant_innen, indem Migrant_innen den hegemonialen Diskursen und Strukturen untergeordnet werden.

Die Frage nach dem Status des Subjekts, beispielsweise der Migrant_innen in der Gesellschaft ist daher stets auch verbunden mit dem ihm diskursiv zugewiesenen Platz in den gesamtgesellschaftlichen Diskursen, Strukturen und Praxisfeldern.

Die Unterscheidungspraxen umfassen insofern gesellschaftliche Konstruktionsprozesse, wie z.B Kulturkonstruktionen und Identitätskonstruktionen, mit Hilfe derer Bevölkerungsgruppen jeweils in Interaktions- und Kommunikationsprozessen als differente hervorgebracht werden. Das Sprechen über Klassen, Schicht, Milieu, Deutschen und Nicht-Deutschen etc. sind verknüpft u.a. durch Kulturkonstruktionen und Identitätskonstruktionen und sind mit entsprechenden medialen und diskursiven Repräsentationsformen von dieser Menschengruppen verknüpft, die spezifische Wahrnehmungen über die jeweiligen Gruppen prägen und stets mit negativen bzw. positiven Wertungen einhergehen. Diese Wertungen fließen in Emotionen, Selbstwahrnehmungen und Erfahrungen ein, die auch ambivalente und geschädigte Identitäten konstituieren.

Die Analyse der Differenzierungen und Hierarchiesierungen zwischen Bevölkerungsgruppen, also die Analyse der sozialen Struktur der Gesellschaft (u.a. Klasse, Schicht, Milieu) und die mit diesen Strukturkategorien erzeugten Ungleichheitsverhältnisse sind nicht neu (vgl. dazu Max Weber, den französischen Soziologen Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede).

Jedoch ist etwa Mitte der 1990er Jahre im europäischen Kontext der intersektioneller Ansatz aufgegriffen worden, die auf die unzureichend analysierten Aspekte in soziologischen Theorien, vor allem auf das in ihnen wenig beleuchtete Ineinandergreifen und die Wechselwirkungen von strukturell und diskursiv vielschichtig erzeugten Differenzlinien, sozialen Hierarchisierungen und sozialen Ungleichheiten, verweisen. Dieser Ansatz wurde zunächst von feministischen Forschungen aufgegriffen, die insbesondere die Aufmerksamkeit auf die Funktionsweisen von Herrschafts- und Machtverhältnissen und damit einhergehende ineinandergreifende geschlechtliche und sexuelle Diskriminierungen lenkten. Auch wenn marxistisch orientierte feministische Forschungen und Politik den Zusammenhang zwischen Differenzierungskategorien Geschlecht und Klasse thematisierten, wurde die Debatte um Intersektionalität jedoch erstmals von Schwarzen Feministinnen bzw. von Schwarzer Frauenrechtsbewegung in den USA ausgelöst. Sie fokussierten auf die besonderen Formen der Diskriminierung und Unterdrückung von schwarzen Frauen. In diesem Kontext prägte sich die im Jahre 1977 von schwarzen Feministinnen in den USA konstituierte Combahee River Collective die Theorie der „Tripple Oppression“ bzw. Mehrfachdiskriminierung durch das Zusammenwirken von Rassismus, Sexismus und Klassismus (vgl. Lutz 2010 et al.: 11).

Schwarze Frauen übten Kritik an den weißen bürgerlich geprägten Feminismus, die die sozioökonomischen Ungleichheitsverhältnisse zwischen Männern und Frauen sowie aufgrund unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit empirisch zu erschließen versuchten, also die soziale Kategorien Geschlecht und Klasse analytisch berücksichtigten, aber die spezifischen Exklusionserfahrungen der schwarzen Frauen außer Acht ließen. Die Kritik der Schwarzen Frauen führte dazu, dass „rassische“/ethnische, klassenspezifische und geschlechtliche Unterdrückungsformen als gleichzeitig und ineinandergreifend auftretende Phänomene zu berücksichtigen sind, die vielschichtige Mehrfachdiskriminierungen zur Folge haben. So wurde die gleichzeitige Einbeziehung der Analysekategorien von „Rasse“, Klasse“ und Geschlecht zunehmend Gegenstand der Analysen sozialer Ungleichheit und Mehrfachdiskriminierungen. Den Begriff der Intersektionalität (Intersectionality) prägte die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw. Sie verdeutlicht am Metapher einer Straßenkreuzung, wie unterschiedliche Differenzlinien sich überkreuzen und vielschichtige Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen hervorbringen.

Die Rezeption der Intersektionalitätsdebatte Mitte der 1990er Jahre findet Eingang in Rassismus- und Nationalismusforschung bzw. Migrationsforschung im europäischen und bundesdeutschen Kontext, auch wenn diese noch marginal bleiben (vgl. Floya Anthias und Nira-Yuval Davis 1992, Lutz 1995). Die an Michel Foucault angelehnten poststrukturalistischen Ansätze und die postkolonialen Ansätze sowie Queer-Theorien bilden die wesentlichen theoretischen Grundlagen der Geschlechterforschung und inzwischen auch der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen (vgl. Helma Lutz/Norbert Wenning 2001). Gabriele Winker und Nina Degele entwickeln den intersektionellen Ansatz weiter, indem sie verdeutlichen, dass die Wechselwirkungen und das Ineinandergreifen von sozialen Differenzierungskategorien und die damit einhergehenden strukturellen und sozialen Ungleichheitsverhältnisse ohne Einbezug der drei Analyseebenen, Makroebene (Gesellschaftssystem, Struktur, Diskurs), der Mesoebene (Institutionen, Organisationen) und Mikroebene (Akteur, Individuum, Identitätskonstruktionen, Subjektpositionen) nicht angemessen in den Blick geraten können. Nach den Autorinnen können vielschichtige Differenzlinien und Ungleichheitsverhältnisse, die Resultat von Herrschafts- und Machtverhältnissen sind, über die Erschließung der drei Ebenen angemessen beleuchtet werden (vgl. Gabriele Winker/Nina Degele 2009).

Vor dem Hintergrund der Intersektionalitätsforschung stellt sich die Frage, wie dieser Ansatz in der Migrationsforschung weiterhin fruchtbar gemacht werden kann, um die in ihr jahrzehntelang dominierte Ethnisierung und Kulturalisierung von sozialen und ökonomischen Problemen von Migrant_innen adäquat zu analysieren und angemessene Lösungen zu finden. Auch bei der Beschreibung und Deutung der Erziehungs- und Bildungsprobleme von ihren Nachkommen sind kulturalistische Sichtweisen hegemonial und verdrängen die strukturelle Ebene sozialer Hierarchisierungen und Mehrfachdiskriminierungen.

Die kritische Migrationsforschung, die zunehmend die kulturessentialistischen Perspektiven reflektiert, rückt durch Einbeziehung poststrukturalistischer und postkolonialer Ansätze zunehmend die Machtverhältnisse, die unter anderem durch hegemoniale Diskurse erfolgen, in den Blick (Yildiz 2009). So werden Ethnie und Kultur nicht als Beschreibung und Deutungskategorien von Problemen, sondern als Differenzsetzungs-, Ausgrenzungs- und damit soziale Ungleichheit erzeugende Untersuchungskategorien herangezogen. Wie intersektionelle Ansätze unterstreichen, ist die Gesellschaft und sind hierarchische Beziehungsverhältnisse zwischen Bevölkerungsgruppen von Herrschafts- und Machtverhältnissen durchdrungen, die nicht eindimensional, sondern vielschichtig zum Tragen kommen. Die einseitigen Forschungen über nationale Zugehörigkeiten z.B. über die „Türken“, die „Italiener“ etc. oder über Erziehungs- und Bildungsprobleme ihrer Nachkommen anhand der Differenzlinie „Ethnie“ oder „Kultur“ verfehlen die Mehrfachdiskriminierungen, die ihnen auch aufgrund ihres Geschlechts-, Klassen- und Schichtzugehörigkeit widerfahren (können). In diesem Rahmen können intersektionelle Ansätze produktiv in die Migrationsforschung einbezogen werden, ohne jedoch, wie die kritischen Perspektiven in der Intersektionalitätsforschung verdeutlichen, die Kategorien lediglich additiv in die Analyse von Problemfeldern einbeziehen.




    Referenzen
    Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main.
    Lutz, Helma (2001). Differenz als Rechenaufgabe: über die Relevanz der Kategorien Race, Class und Gender. In: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Lutz, Helma/Wenning, Norbert (Hrsg.). Leske + Budrich. Opladen, S. 215-230.
    Lutz, Helma/Herrera Vivar, María Teresa /Supik, Linda (Hrsg.) (2010): Fokus Intersektionalität. Eine Einführung. In: Fokus Intersektionalität: Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. VS Verlag. Wiesbaden, S. 9-32.
    Weber Max, (1980): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. rev. Auflage. Winckelmann, Johannes (Hrsg.). Mohr Verlag. Tübingen.
    Winker,Gabriela/ Degele, Nina (2009): Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Transcript Verlag. Bielefeld.
    Yýldýz, Safiye (2009): Interkulturelle Erziehung und Pädagogik. Subjektivierung und Macht in den Ordnungen des nationalen Diskurses. Wiesbaden. VS-Verlag.