ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 28 / August-Oktober 2013

Integrationspolitik
[Entegrasyon Politikasý]


Gregor GYSÝ
(LÝNKE.)

Gregor GYSÝ




Viele Studien belegen die besondere Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen, die mindestens ein Elternteil mit Migrationserfahrungen haben. Sie schneiden in allen untersuchten Bereichen von der frühkindlichen Bildung bis zur Weiterbildung deutlich schlechter ab, weisen geringere Beteiligungsquoten auf und werden auf vielfältige Weise diskriminiert. Bessere Chancen werden sie nur haben, wenn es gelingt, Vorurteile und strukturelle Barrieren im Bildungssystem abzubauen und ihre kulturellen Erfahrungen sowie die Sprache als Bereicherung für die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland zu begreifen. Kindereinrichtungen und Schulen, Vereine und Verbände für Sport und Kultur sowie Angebote der politischen Bildung können einen großen Beitrag dazu leisten, dass das Zusammenleben in Vielfalt gelingt.

Voraussetzung dafür ist ein inklusives Bildungsverständnis, das das gesamte Bildungssystem prägt. Menschen mit Zuwanderungsgeschichte werden aufgrund ihrer durchschnittlich schlechteren sozialen Lebenslage vom selektiven Bildungssystem in Deutschland besonders benachteiligt. Kinder mit Migrationshintergrund müssen wie alle anderen einen ganztägigen Anspruch auf Bildung und Betreuung haben. Barrieren und Zugangshürden für die Nutzung solcher Angebote müssen abgebaut und der Zugang erleichtert werden. Wenn Kinder gemeinsam spielen und lernen, treten kulturelle und soziale Unterschiede in den Hintergrund. Das gilt auch für die Schule. Zwei- und Mehrsprachigkeit sowie Akzeptanz und Toleranz gegenüber verschiedenen kulturellen Traditionen sind längerfristig von Vorteil für Bildungsprozesse und kommen allen Kindern und Jugendlichen zugute. Ein inklusives Bildungssystem schafft Rahmenbedingungen für den bewussten Umgang mit Heterogenität im gemeinsamen Lernprozess. Nachteile können besser ausgeglichen, Unterschiede produktiv gemacht werden. Interkulturelles Lernen muss dabei gestärkt werden. Es geht nicht nur darum, die Orientierungen der jeweils anderen zu verstehen, zu akzeptieren und nachzuvollziehen. Vielmehr gilt es zu vermitteln, dass dort, wo Menschen unterschiedlicher soziokultureller Herkunft zusammentreffen, etwas Neues entsteht. Auch bei der Ausbildung und beim Einsatz von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrerinnen und Lehrern muss sich die Vielfalt der Kulturen widerspiegeln.

Die Möglichkeit, sich verständlich zu machen, zu kommunizieren ist eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Wir halten es aber für problematisch, die Sprachbeherrschung zur primären oder gar einzigen Bedingung für eine erfolgreiche Partizipation zu erklären und Diskriminierungen etwa im Bildungs- und Ausbildungssystem oder beim Arbeitsmarktzugang zu ignorieren. Die fehlende wirksame Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen und Bildungsabschlüssen behindert eine gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft genauso wie Vorurteile bei der Arbeits- oder Ausbildungssuche gegenüber Migrantinnen und Migranten. Sprachstandserhebungen können bestenfalls als Indikator für eine möglichst individuelle Förderung zum Erlernen der deutschen Sprache dienen, jedoch nicht mit dem Ziel, die Herkunftssprache zu ersetzen. Um gesellschaftliche Teilhabe zu erleichtern, ist ein umfassendes und qualitativ hochwertiges Angebot an Sprachkursen unerlässlich, das allen offen steht.

DIE LINKE. tritt für eine weltoffene Gesellschaft ein. Für ein respektvolles Miteinander in Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen unterschiedlicher Herkunft. Das erfordert gleiche Rechte und die soziale und politische Teilhabe für alle in Deutschland lebenden Menschen. Ein Fünftel der hiesigen Bevölkerung hat einen so genannten Migrationshintergrund, mehrheitlich handelt es sich um deutsche Staatsangehörige. In allen wichtigen Lebensbereichen ist diese Bevölkerungsgruppe benachteiligt. Migrantinnen und Migranten sind prozentual etwa doppelt so häufig von Schulabbrüchen, von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit, von Armut und niedrigen Einkommen betroffen wie die übrige Bevölkerung. Diese Diskriminierung ist weder Schicksal noch liegt es an den Menschen selbst. Sie ist Folge einer unsozialen Politik, Folge einer auf Abwehr und Ausgrenzung setzenden Ausländergesetzgebung, Folge von Lohndumping, Minijobs und Leiharbeit sowie das Ergebnis eines sozial selektiven Bildungssystems.

Das wollen wir ändern, durch eine solidarische Politik der sozialen Gerechtigkeit, durch eine gezielte Förderung von Benachteiligten, durch eine Stärkung der Rechte von Migrantinnen und Migranten, durch sozial abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse und faire und menschenwürdige Renten. Wir fordern ein Wahlrecht für alle dauerhaft hier lebenden Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie wirksame Erleichterungen bei der Einbürgerung (doppelte Staatsangehörigkeit, Einbürgerungen unabhängig vom Einkommen und zu geringen Gebühren sowie ohne diskriminierende Sprach- oder Wissens-Tests).

Besonders wichtig ist die Umgestaltung des Bildungssystems. Wir vertreten ein inklusives Bildungsverständnis. Allen Kindern soll unabhängig von sozialen und persönlichen Voraussetzungen der bestmögliche Lernfortschritt ermöglicht werden. Bei der frühkindlichen Bildung brauchen Kinder eine auf ihre individuellen Bedürfnisse ausgerichtete spezifische Förderung, soweit erforderlich auch eine spielerische Unterstützung beim Erwerb der deutschen Sprache. Kita-Gebühren sind für sozial ausgegrenzte und einkommensarme Menschen eine (zu) hohe Hürde, deshalb sollen Kinderbetreuungseinrichtungen gebührenfrei in Anspruch genommen werden können.

In den Schulen wirkt das gegliederte System mit seiner frühen Zuteilung unterschiedlicher Bildungschancen besonders ungerecht. Wir wollen eine neue Lehr- und Lernkultur vorwiegend in Gemeinschaftsschulen, wo es keine feste Aufteilung in nach Leistung sortierte Gruppen gibt. Verschiedene Angebote sollen den Interessen und Neigungen sowie dem individuellen Lerntempo der Schülerinnen und Schüler Rechnung tragen. In diesem Rahmen kann auch auf besondere Bedürfnisse und Potentiale von Kindern mit Migrationsgeschichte eingegangen werden. Die herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit von Kindern ist unbedingt zu fördern und als besondere Chance zu begreifen.

Das alles erfordert eine bessere Ausstattung der Bildungseinrichtungen mit Lehr-, Lern- und Hilfsmitteln, vor allem aber mehr und gut ausgebildetes Personal, verstärkt mit Migrationshintergrund, und ein gebührenfreies gesundes Mittagessen in den Kitas und Schulen.

Viel zu lange wurde die, vor allem in den größeren westdeutschen Städten wachsende multikulturelle Vielfalt der Kinder in unseren Bildungseinrichtungen sträflich ignoriert. Es gibt zum Teil eine bedenkliche soziale „Ent-Mischung“ (Segregation) des Schulwesens, durch die vor allem Kinder von Migrantinnen und Migranten benachteiligt werden. Dies ist nicht etwa das Ergebnis von Entscheidungen eingewanderter Eltern, im Gegenteil: Gerade türkische Eltern legen besonderen Wert auf die Bildungserfolge ihrer Kinder. Aber durch steigende Mieten werden ärmere Menschen in bestimmte Stadtteile verdrängt, wo sich dann die sozialen Probleme ballen. Hinzu kommen Schulentscheidungen bildungsnaher Eltern (mit oder ohne Migrationshintergrund), die Schulen mit hohem Anteil migrantischer Kinder oft meiden. Deshalb müssen die Schulen in diesen Viertel bzw. mit einem hohem Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler gezielt gefördert werden, um die dortigen Lernbedingungen zu verbessern und sie attraktiv zu machen für Eltern und Kinder aus einem stärkeren sozioökonomischen Umfeld. Studien belegen, dass nicht die Herkunft der Schülerinnen und Schüler für den Lernerfolg entscheidend ist, sondern vor allem die sozioökonomischen Bedingungen des jeweiligen Elternhauses und das durchschnittliche Leistungsniveau einer Schule. Auch die Lehrausbildung und pädagogischen Konzepte müssen die multikulturelle Herkunft der Kinder von Beginn an berücksichtigen (Stichwort interkulturelle Kompetenz, durchgängige Sprachförderung, kooperative Elternarbeit). Im Lehramtsstudium muss zwingend eine pädagogische Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler erfolgen, derzeit geschieht dies viel zu selten.

Die persönlichen Lebensleistungen der in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten sind nicht hoch genug einzuschätzen. Im Alltag und in der Arbeitswelt ist die „Integration“ (die uns nicht reicht, wir wollen Partizipation) trotz aller Probleme im Allgemeinen recht gut gelungen – und zwar gegen die Widerstände der Politik und trotz aller gesetzlichen Hindernisse und Benachteiligungen! Jahrzehntelang wurde die Realität verleugnet („Deutschland ist kein Einwanderungsland“), statt Sprach- und Arbeitsförderangeboten gab es Rückkehrprämien und Arbeitsverbote. Die Probleme von Migrantinnen und Migranten sind im Regelfall die Probleme sozial benachteiligter Personen, und sie teilen diese mit einer leider zunehmenden Zahl von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Es gibt jedoch noch darüber hinausgehende Schwierigkeiten, etwa Beschränkungen beim Arbeitsmarktzugang, eine immer noch mangelnde Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und Qualifikationen sowie Diskriminierungen im Bildungssystem und bei der Vergabe von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Zu all diesen Themen macht DIE LINKE. seit Jahren konkrete Vorschläge für eine bessere Politik. So forderten wir bereits im Jahr 2007 im Bundestag Initiativen zur erleichterten Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen und machten damit frühzeitig auf ein bis dahin kaum diskutiertes Problem aufmerksam. Wir setzen auf eine systematische Förderung des freiwilligen Spracherwerbs durch qualitativ hochwerte Sprachkurse, die allen offen stehen. Wir sind dagegen, dass Sprachtests im In- und Ausland dazu genutzt werden, um die Rechte von Migrantinnen und Migranten einzuschränken und neue Hürden aufzubauen.

Türkische Staatsangehörige haben infolge des Assoziationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei aus dem Jahr 1963 besondere Rechte – allerdings werden diese von der Bundesregierung immer wieder verweigert. Gegen diese skandalöse Politik kämpft DIE LINKE. seit langem. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesrepublik Deutschland immer wieder durch die Gerichte zur Einhaltung des Abkommens verpflichtet werden muss. Die Bundesregierung muss Wort halten und die gegenüber der Türkei eingegangenen Verpflichtungen vollständig umsetzen. Es ist absolut unglaubwürdig, von Migrantinnen und Migranten in oft vorwurfsvollem Ton Rechtstreue einzufordern und selbst das Recht aus politischem Kalkül zu brechen.

Schließlich muss der Rassismus in Deutschland endlich als ein gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen und bekämpft werden. Auch dies gehört zum Thema „Integration“ dazu. Dabei geht es nicht nur um Neo-Nazis, sondern auch um den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft. Die Untersuchungen zur NSU-Mordserie haben gezeigt, wie verbreitet rassistische Einstellungen und Vorurteile selbst in Polizeikreisen sind: Selbst als Mordopfer wurden die „Türken“ noch als potentielle Täter angesehen, gesucht wurde vor allem nach ihren Verstrickungen in Organisierte Kriminalität und Drogenhandel, nicht aber nach rassistischen Mördern. Auch die achtlose und bösartige Verwendung des Begriffs „Dönermorde“ spricht in diesem Zusammenhang Bände. Aus den Ergebnissen der NSU-Untersuchungsausschüsse werden umfassende politische Konsequenzen zu ziehen sein. Eine wichtige Maßnahme gegen Rassismus in der Gesellschaft wäre es schon, wenn Parteien und Regierung aufhörten, mit rechtspopulistischen Ressentiments politisch punkten zu wollen und Misstrauen gegen Migrantinnen und Migranten zu sähen, wie geschehen durch Kampagnen zu vermeintlichen „Integrationsverweigerern“, durch stete Warnungen vor einem angeblichen „Zuzug in die Sozialsysteme“ und durch ideologisch überfrachtete Debatten um den Doppel-Pass und das kommunale Ausländer-Wahrrecht.

In den letzten Jahren gab es viele „Integrationsgipfel“, „Integrationspläne“ und sogar „Integrationsindikatorenberichte“ der Bundesregierung. Das zeigt, wie wichtig das Thema ist. Aber all das war in erster Linie Symbolpolitik, verbessert hat sich an der realen Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Deutschland kaum etwas. Statt schön klingender Worte brauchen wir endlich Taten!