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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 29 / November-Dezember 2013

Gibt es Sprachen erster
und zweiter Klasse?
[Birinci ve Ýkinci Sýnýf Diller Var mý?]


Prof. Dr. Elin FREDSTED
(Flensburg Üniversitesi Danca Dili ve Edebiyatý Enstitüsü Baþkaný)



Nationalismus und seine Konsequenzen

Nach der französischen Revolution 1789 und den späteren bürgerlichen Revolutionen in zahlreichen europäischen Ländern im 19. Jahrhundert verschwand allmählich das dynastische Prinzip der multiethnischen und multikulturellen Staaten. Schritt für Schritt wurden die dynastischen Staaten von Nationalstaaten ersetzt. Mit den neuen Nationalstaaten entstand die dominierende Vorstellung, dass es eine Übereinstimmung oder sogar Identität zwischen Volk, Kultur, Sprache, Nation und Staat gebe.

Dieses Prinzip, Staat mit Nation, Volk, Kultur und Sprache gleichzusetzen, war schon von den post-rationalistischen Philosophen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts formuliert worden. In Deutschland wurde vor allem Fichte mit seinen ‚Reden an die deutsche Nation‘ (1807/08) bekannt, worin er (besonders in der vierten Rede) die kulturelle Superiorität des deutschen Volkes betont. Zuvor hatte schon Herder (1744-1803) – jedoch ohne Fichtes nationalistische, fast chauvinistische Hierarchisierung der Völker – in ‘Über die neuere deutsche Literatur’ (1768) und besonders in der ‘Abhandlung über den Ursprung der Sprache’ (1772) Überlegungen zur Sprache formuliert, die später im 20. Jahrhundert amerikanische Anthropologen und Sprachwissenschaftler (Sapir und Whorf) bekannt machten. Unter der Bezeichnung ‚sprachlicher Relativismus‘ oder als ‚Sapir-Whorf-Hypothese‘ erlangten jene amerikanische Wissenschaftler Ruhm für die Grundgedanken zur Sprache, die Herder und später auch Humboldt schon im 18. und 19. Jahrhundert formuliert hatten: Sprache ist das Medium, das die Inhalte des menschlichen Denkens formt. Wenn man eine bestimmte Sprache spricht, wird man auch die Art und Weise des Denkens verwenden, die dieser Sprachen inhärent ist. Die Sprache ist Thesaurus des ganzen menschlichen Denkens, das somit in jeder Sprache in einer bestimmten, einzigartigen Form präsent ist. Es gibt also nicht Sprachen, die für das Denken geeigneter wären als andere. Dies macht die sog. ‚Elternsprache‘ zu einer conditio sine qua non für die Identität; und so muss nach Herder eine Übereinstimmung zwischen Nationalcharakter und Sprache vorhanden sein (Herder 1772: 104ff).

Die Gedanken über Identität zwischen Volk, Nation und Staat erlangten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts europaweit eine große Bedeutung für die Literatur und die Geschichtsschreibung. Insbesondere bekamen diese Ideen eine fundamentale Bedeutung für die Art und Weise, wie über Sprache gedacht, gesprochen und geschrieben wurde, weil Sprache (nach Herder) als eines der bedeutendsten Merkmale nationaler Identität interpretiert wurde.

Diese neuen Ideen der präromantischen und nationalromantischen Epoche hatten viele politische und gesellschaftliche Konsequenzen für das Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Die Auffassung, dass ein Staat nicht nur ein Territorium eines absolutistischen Fürsten, sondern die Heimat einer Nation sei, hatte viele sowohl positive als auch negative Konsequenzen, wovon hier nur einige Erwähnung finden sollen.

Zu den positiven Konsequenzen gehören einerseits beispielsweise:

Ein Interesse für das Individuum, nicht nur als Untergebenen oder Vasal, sondern auch als Bürger und als Träger einer ursprünglichen, historischen Volkskultur. Das Konzept des mündigen Bürgers führte in den meisten nord- und zentraleuropäischen Ländern allmählich zur Demokratie.

Schul- oder Unterrichtspflicht und nationale (meistens gebührenfreie) Schulsysteme wurden in fast allen europäischen Ländern am Anfang des 19. Jahrhunderts eingeführt. Hiermit waren elementare Bildung und das Aneignen von Lese- und Schreibfertigkeiten nicht länger das Privileg einer herrschenden Klasse. In Skandinavien wurde Unterricht für jugendliche Erwachsene der Landbevölkerung eingeführt. In Frankreich (wo die Sprachunterschiede sehr groß waren) wurde für Kinder ab ca. drei Jahren die sog. ‚écoles maternelle‘ errichtet, in denen die Kinder ihre ‚Muttersprache‘ frühzeitig lernen konnten, die jedoch – nebenbei bemerkt – oft nicht die Sprache ihrer Mütter war.

Nationalsprachen wurden als Schriftsprachen kodifiziert und standardisiert. Es entstanden Grammatiken, Wörterbücher und Schulbücher für den Sprachunterricht in den Schulen. Das Interesse für Sprache zeigte sich auch in der Entstehung der historisch-komparativen Sprachwissenschaft (Grimm und Bopp in Deutschland, Rask in Dänemark) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. An den Universitäten wurden die Nationalphilologien gegründet.

Andererseits gab es auch von Anfang an negative Seiten des Nationalstaatsgedankens:

Die Standardisierung der Nationalsprachen führte zur Unterdrückung und Diskrimination anderer, jetzt ‚nicht-nationaler‘ Sprachvarietäten: In vielen europäischen Ländern wurde eine Sprache als die offizielle, nationale Sprache introduziert, obwohl andere Sprachvarietäten (Dialekte, Regionalsprachen und Minoritätssprachen) von vielen Bürgern dieser Länder gesprochen wurden. In den meisten Ländern dürfte nur eine Minderheit tatsächlich die offizielle Nationalsprache gesprochen haben; schätzungsweise 20% der italienischen Bevölkerung z.B. sprachen die italienische Hochsprache (die toskanische Varietät) bei der Gründung des italienischen Nationalstaates 1871, so die Anthropologin Anne Knudsen (Knudsen & Wilken 1996:61).

Die neue Idee, dass ein Staat nicht bloß ein Territorium, sondern die Heimat einer Nation sein sollte, führte zu vielen Kriegen auf dem ganzen Kontinent über mehr als hundert Jahre hinweg, denn in den meisten der dynastischen Territorien lebten Menschen, die sich ethnisch, sprachlich oder religiös voneinander unterschieden; beispielswiese lebten in der österreich-ungarischen Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg mindestens 12 sprachlich, religiös oder ethnisch unterschiedliche Volksgruppen.

Eine andere negative Konsequenz war der Umgang mit Minderheiten: Minderheiten wurden potentiell als eine Gefahr für die Einheit eines Nationalstaates betrachtet, insbesondere wenn es sich um nationale oder historische Minderheiten handelte, deren ‚Heimat‘ auf der anderen Seite der Grenze lag. Oft wurden diese Minderheiten nicht nur als Bürger zweiter Klasse betrachtet, sondern sogar als eine feindliche oder jedenfalls als eine fremde Gruppe ausgegrenzt.

…und heute?

Die Art und Weise, wie wir auch noch heute über Sprache und Identität denken und sprechen – so meine Pointe –, ist von dieser national(istisch)en Ideologie sehr stark geprägt. Eine Konsequenz der nationalen Ideologie ist, dass Sprachen erster, zweiter und dritter Klasse entstanden sind, was mit den ursprünglichen Gedanken Herders nicht übereinstimmt. Bei Herder ist jede Sprache als einzigartige Manifestation der menschlichen Sprachfähigkeit zu verstehen, was jedoch auch bedeutet, dass nicht eine Sprache besser als die andere ist.

Im Prozess der ‚nation-building‘ erhielten die standardisierten Nationalsprachen eine wichtige Funktion als gemeinsames Kommunikationsmittel des Staates, der Verwaltung, der Schulen und des Rechtswesens, was natürlich mit hohem Prestige verbunden war. Auf der nächsten Stufe stehen die Dialekte und Regionalsprache, die oft als zweitklassig, primitiv und Zeichen einer unzureichenden Bildung abgetan wurden und werden (so z.B. in zentralistischen Staaten wie Frankreich und Dänemark). Jedoch erhielten diese Sprachen in der romantischen Epoche des 19. Jahrhunderts als Ausdruck einer ursprünglichen Volkskultur eine gewisse Aufwertung. Ganz unten auf der Prestigeleiter standen dann Sprachen von Minoritäten und Migranten.

Wir erleben heute die Schwierigkeit, diese Denkweise des Nationalismus zu überwinden – besonders in Bezug auf Sprache und Identität. Was wir aber in einer post-nationalen Gesellschaft brauchen, ist ein Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie wir über die Phänomene Sprache und Identität denken und sprechen. Ganz fatal in diesem Zusammenhang wäre eine nicht-problematisierte Gleichsetzung von Sprache und Identität. Beide Begriffe sind unklar und schwammig. Was ist eigentlich eine ‚Sprache‘? Schon längst haben Sprachwissenschaftler aufgegeben, objektive oder linguistisch feststellbare Grenzen zwischen einer ‚Sprache‘ und einem ‚Dialekt‘ zu definieren. Es gibt heutzutage eher die Tendenz, über Varietäten zu sprechen und zu schreiben. Der Romanist Eugen Coseriu stellt in seinen Tübinger Vorlesungen (veröffentlicht 1988) fest, dass es drei Ebenen gibt: 1) das Sprechen im Allgemeinen (also die Sprache als universelles Phänomen, vgl. Herder), 2) die historische Ebene der Einzelsprachen, wie wir sie in Grammatiken und Wörterbücher finden, und 3) der individuell realisierte Sprachgebrauch. Diese Aufteilung bedeutet auch, dass die kodifizierte Sprache (wie wir sie z.B. in Grammatiken finden) mit dem konkreten Sprachgebrauch im konkreten Kontext nicht identisch sein muss.

Noch schwieriger verhält es sich mit dem Begriff der ‚Identität‘. Im traditionell nationalstaatlichen Denken herrscht ein essentialistischer Identitätsbegriff. Das heißt, ein Individuum wird in eine bestimmte Identität hineingeboren, man hat z.B. eine Identität als Franzose, Katholik etc. In den letzten ca. 20 Jahren hat sich als Gegenkonzept ein konstruktivistischer Identitätsbegriff in der Sozialforschung durchgesetzt, der Identität nicht als Programmierung des Individuums sieht, sondern die Bildung einer Identität als einen aktiven, oft individuellen und/oder gruppenspezifischen Konstruktionsprozess versteht. Nichtsdestoweniger wird heute immer noch in zahlreichen politisch oder religiös aufgeladenen Diskursen der Begriff ‚Identität‘ als Deckmantel für geistigen Konservatismus oder gar für nationalen oder religiösen Fundamentalismus missbraucht. Was eigentlich historisch als Teil einer ‚Befreiung‘ des Individuums verstanden wurde, wird heute oft als Ausrede für Intoleranz anderen gegenüber verwendet.

…und morgen

Unsere Welt ist mehrsprachig. Und Mehrsprachigkeit ist ein Normalzustand, wenn wir die Weltbevölkerung betrachten. Viele Kinder wachsen mit mehreren Sprachen auf. Beispielsweise in Afrika und weiten Teilen Asiens stellt Mehrsprachigkeit die Voraussetzung dar, wenn man über eine größere kommunikative Reichweite mit seiner Umwelt in Verbindung treten möchte. So hat z.B. die Republik Südafrika 11 Nationalsprachen, deren Zahl jedoch ganz und gar nicht die tatsächliche sprachliche Vielfalt dieser Nation widerspiegelt.

Sprache (als universelles Phänomen) ist eine Ressource, die den Menschen zum Menschen macht und dafür sorgt, dass er mit anderen Menschen über etwas sprechen kann, was ja eine Voraussetzung für jede soziale Tätigkeit darstellt. Dabei gibt es keine ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Sprachen oder Sprachen erster und zweiter Klasse. Es ist daher auch ganz natürlich, wenn mehrsprachige Personen in einer Varietät besser über bestimmte Dinge sprechen können als in einer anderen. Diese Komplementarität der Sprachvarietäten sollte man nicht als ‚doppelte Halbsprachigkeit‘ negativ brandmarken. Deshalb ist es kein Zeichen für schlechte Sprachkompetenz, wenn mehrsprachige Kinder es bevorzugen, in der Schulsprache über Schule und über das dort Gelernte zu sprechen. Ganz im Gegenteil handelt es sich hier um ein sprachökonomisches Prinzip, das kognitiv entlastet!

Vielfalt ist wichtig! Man kann sich nur schwer vorstellen, wie langweilig unsere Welt wäre, wenn wir uns alle nur in (einem mehr oder weniger schlechten) Schulenglisch ausdrücken könnten. Wir brauchen die Erfahrungswelt, die mit jeder Sprachvarietät verbunden ist, weil Sprachen der kulturelle Speicher, das kulturelle Gedächtnis der Menschheit sind.

Dies ist auch ein Stück Wirkungsgeschichte, die einerseits zeigt, wie Wissenschaft missbraucht werden kann, aber andererseits auch, wie eine fundierte Sprach- und Sozialwissenschaft aus den Ideologien herausführen kann.


    Literatur:
    Coseriu, Eugenio (1988) Sprachkompetenz. Tübingen: Franke
    Fichte, Johann Gottlieb (1807/08) Reden an die deutsche Nation.
    Herder, Johann Gottfried (1768) Über die neuere deutsche Literatur
    Herder, Johann Gottfried (1772) Abhandlung über den Ursprung der Sprache.
    Knudsen, Anne & Wilken Lisanne (1996 ) Kulturelle verdener. Kopenhagen: Columbus