ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 33 / August-Oktober 2014

Zur Frage des institutionellen Rassismus
bei Polizei, Staatsanwaltschaft, Verfassungsschutz und Innenministerien
in Deutschland
Analysen anhand des Berichtes der Untersuchungskommission des Thüringer Landtages und des Abschlussberichtes des Bundestages
[Almanya’da Poliste, Savcýlýkta, Anayasa Koruma Örgütünde ve Ýçiþleri Bakanlýðýnda Kurumsal Irkçýlýk Sorunu]


Prof. Dr. Claus MELTER





Die terroristische Vereinigung NSU hat über viele Jahre in Deutschland gelebt und hat auf rassistische Weise neun Menschen mit Migrationsgeschichte getötet und eine Polizistin ohne Migrationsgeschichte. Polizei, Staatsanwaltschaften sowie Verfassungsschutz und Innenministerien haben nachweisbar rechtsextremistisch eingestellte und handelnde Verdächtige nicht gefasst – obwohl dies mehrfach möglich war – und sie haben systematisch Angehörige der rassistisch ermordeten Personen verdächtigt und überwacht, obwohl keinerlei Anhaltspunkte für Straftaten vorlagen.

Hätten die Behörden nicht in rassistischer Weise einseitig im Umfeld der Opfer mit Migrationsgeschichte ermittelt, sondern in alle Richtungen ermittelt und professionelle Standards eingehalten, hätten die Morde verhindert werden können, sie hätten verhindert werden müssen. Sowohl der NSU Abschlussbericht der Bundesregierung als auch der des Landtages Thüringen belegen systematisches Versagen der Polizei, von Verfassungsschutz, Staatsanwaltschaften und Innenministerien.

So stellt sich die Frage, ob Personengruppen von Polizei und anderen Behörden in der BRD systematisch in rassistischer Weise kategorisiert und die als nicht-deutsch, nicht-weiß, nicht-christlich und/oder nicht-sesshaft kategorisierten Personen benachteiligend behandelt werden? Konkret: Gibt es systematisch institutionellen Rassismus bei der Polizei, Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutzämtern sowie Innenministerien in Deutschland?

In Großbritannien wurde Stephen Lawrence Anfang der 1990er Jahre rassistisch ermordet und die Polizei und Staatsanwaltschaft haben nachlässig ermittelt, Beweise nicht gesichtet, Zeugen nicht verhört usw. Dagegen gab es vor allem von Angehörigen des Opfers und aus der Schwarzen britischen Community Proteste und es wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die untersucht hat, ob es systematisch institutionellen Rassismus in der Polizei gibt. Ergebnis war, dass systematisch institutioneller Rassismus in der Polizei nachgewiesen wurde. Die Folge waren umfangreiche Gegenmaßnahmen.

In Deutschland gab es bis auf die Justizstudie von Glet (2010) keine systematische Untersuchung zu institutionellem Rassismus bei der Polizei, obwohl es mehrfache ähnliche Polizeipraxen nach rassistischen Morden gab. Die Amadeu-Antonio-Stiftung (2012) spricht in Bezug auf den Umgang der Polizei und Staatsanwaltschaften bei rassistischen und rechtsextremen Morden von einem „Kartell der Verharmloser“. So gab es mit dem Mord an Stephen Lawrence und den rassistischen Ermittlungsmethoden in Großbritannien vergleichbare rassistische Übergriffe und Morde sowie unprofessionell rassistische Polizeipraxen auch in Deutschland (z.B. nach dem Übergriff auf Ermyas Mulageta 2006 in Potsdam http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutsch-aethiopier-ermyas-m-potsdamer-ueberfallopfer-ausser-lebensgefahr-1331001.htm und andere rassistischen Übergriffe; vgl. Amadeu-Antonio-Stifung 2012). Dies gilt sowohl bei rassistischen Morden bzw. Mordversuchen seitens Personen aus der Bevölkerung, aber auch bei rassistischer Gewalt und Todesfällen oder Tötungsdelikten durch Polizeibeamte wie z.B. von Oury Yalloh in einer Gefängniszelle der Polizei in Dessau (vgl. Jakob 2013: http://www.taz.de/Kommentar-Justizversagen-Fall-Oury-Jalloh/!127384/ ). Zudem gibt es durch Bundesgrenzschutz und Polizei in der BRD die Praxen des Racial Profiling, die Menschen nach rassistischen Kriterien einteilen und als nicht-weiß kategorisierte Personen systematisch verdächtigen und kontrollieren. Dies ist eine Praxis, die aktuell im Kontext des rassistischen Mordes an einem unbewaffneten Schwarzen jungen Mann in Ferguson/USA durch einen weißen Polizisten diskutiert wird.

Trotz der vielfältigen Beispiele rassistischer Polizeipraxen und rassistischer Polizeigewalt hat es bisher keine systematische Untersuchung zu Rassismus und rassistischer Polizeigewalt in Deutschland gegeben, wie es der Stephan Lawrence-Inquiry ansatzweise entsprechen würde. Welchen Beitrag leisten nun die Berichte der Untersuchungsausschüsse zur Klärung der Frage des institutionellen Rassismus bei Polizei und anderen Behörden in Deutschland?

I. Der Abschlussbericht des Bundestages 2013 und die Erklärung der Anwälte der Opfer

Zur Klärung der Frage des Rassismus sollen zuerst der der NSU-Abschlussbericht des Deutschen Bundestages (2013) und die Erklärung der Opferanwälte der Opfer der NSU-Morde zum genannten Abschlussbericht herangezogen werden.

In den parteiübergreifenden gemeinsamen Bewertungen im Abschlussbericht des Deutschen Bundestages heißt es: „Dass diese Taten weder verhindert noch die Täter ermittelt werden konnten, obwohl aufgrund der bei neun der zehn Morde verwendeten Waffe des Typs Ceská schon nach dem zweiten Mord erkannt wurde, dass es sich um eine Serie handelt, ist eine beschämende Niederlage der deutschen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden.“

Die Polizei hatte nur nach türkischen Personen gefragt, die die Waffe erworben hatten. Hätten sie unabhängig von der Nationalität gefragt, wären sie auf die realen Käufer gestoßen

„Die neun Opfer der Ceská-Mordserie wurden kaltblütig und aus rassistischer Motivation heraus auf menschenverachtende Weise hingerichtet. Die Täter sprachen ihnen ebenso wie den Opfern der Sprengstoffanschläge aufgrund ihrer Herkunft das Lebensrecht ab. Neun Männer wurden stellvertretend für alle Menschen ermordet, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Namens oder ihrer Muttersprache tatsächlich oder vermeintlich nicht-deutscher Herkunft sind.“

Kommentierung

Ermittelt wurde fast ausschließlich nach Personen mit türkischer Migrationsgeschichte. Bekundeten Beamte, was selten vorkam, die Möglichkeit, dass es sich um rechtsextreme oder rassistische Morde handeln könnte, wurden diese Hinweise in fast allen Fällen nicht verfolgt, sondern die Beamt_innen kritisiert. Zudem wurde in schlechter antiziganistischer Polizeitradition gegen Roma und Sinti systematisch ermittelt als sich so kategorisierte Personen in der Nähe eines Tatortes aufhielten. Sie hatten nichts Verdächtiges getan. Nur weil sie Roma und Sinti waren, wurden sie verdächtigt und systematisch überwacht.

Die Ermittlungsbehörden, so kann der Abschlussbericht des Bundestages zusammengefasst werden, stellten einerseits als deutsch kategorisierten Personen quasi einen Freibrief aus und stellten andererseits als türkisch kategorisierte Personen sowie zum Teil Roma und Sinti (die älteste und größte staatlich anerkannte Minderheit in Deutschland) unter Generalverdacht. Und obwohl alle Ermittlungen in migrantischen Communities komplett ergebnislos waren, wurden diese Ermittlungen umfangreich fortgesetzt und wurden andere Spuren, z.B. in Richtung rassistische/rechtsextreme Einzelpersonen oder Gruppen sowie generell Personen ohne Migrationsgeschichte, gar nicht oder nur sporadisch verfolgt.

Diese Ermittlungspraxen sind eindeutig als institutioneller Rassismus zu bezeichnen, da Personengruppen nationalisiernd/rassialisierende kategorisiert wurden und als nicht-deutsch eingeteilte Gruppen systematisch kriminalisiert wurde, während die als deutsch kategorisierte Gruppen systematisch nicht verdächtigt und nicht verfolgt wurde.

Erklärung der Anwält_innen der Opfer der NSU-Mordserie 2013

Anwälte und Anwältinnen der Opfer der NSU-Morde haben am, Tag der Veröffentlichung des Bundestagsberichts zu den NSU-Morden eine Erklärung abgegeben (http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/nsu-nebenklagevertreter-kritisieren-abschlussbericht_2208 ; Recherchedatum 23.08.2014): „Unabhängig von der persönlichen Einstellung und den Absichten der Beamten, folgen die Ermittlungsbehörden einer inneren Logik, Normen und Werten, deren rassistische Konsequenzen sich unter anderem in den Ermittlungen zur Mord- und Anschlagsserie des NSU wiederfinden.“ Die Opferanwält_innen kommen in ihrer Analyse zum klaren Ergebnis des Vorhandenseins von institutionellem Rassismus bei der Polizei und anderen Behörden.

II. Der Abschlussbericht des Thüringer Landtages

Am 21. August 2014 wurde der Abschlussbericht des Thüringer Landtages zu „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“ vorgelegt. Der Bericht wird eingeleitet mit:

„Wir bitten die Opferangehörigen und die 23 teils lebensgefährlich Verletzten der Sprengstoffanschläge in Köln für das ihnen entgegengebrachte Misstrauen sowie für die rassistischen Verdächtigungen um Verzeihung. Unser Beileid gilt den Hinterbliebenen. Auch künftig gilt unser gemeinsames Engagement der Bekämpfung des Rassismus und der Zurückdrängung der extremen Rechten in allen Formen. Wir hoffen auf eine baldige gerechte und konsequente, rechtsstaatsgemäße Verurteilung aller Täter und aller weiteren Personen, die auf verschiedene Weise wissentlich und willentlich zu den Taten des NSU beigetragen oder sie schuldhaft ermöglicht und sich der Beihilfe, der Begünstigung und - womöglich - der Strafvereitelung schuldig gemacht haben. Wir setzen uns dafür ein, dass auch künftig im Freistaat Thüringen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Verbrechen des NSU und die Tatbeiträge ihrer Unterstützer aufzuklären, und dass diese Aufklärung nicht vor der Verantwortung von Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden halt macht.“

Am Ende des fast 1.900 Seiten langen Berichtes werden die Untersuchungsfragen beantwortet:

Gefragt wurde u.a., ob und in welchem Umfang rechtsextreme Strukturen in Thüringen durch die Landesregierung falsch eingeschätzt und deren Herausbildung begünstigt wurden?

„Die Herausbildung militanter rechtsextremistischer Strukturen wurde kaum gesehen bzw. nicht richtig bewertet und unterschätzt. Stattdessen gab es in Teilen der Gesellschaft, bei politisch Verantwortlichen sowie bei kommunalen und Landesbehörden eine verhängnisvolle Tendenz zur Verharmlosung und Entpolitisierung rechter Aktivitäten. (…) Im Bereich der Justiz erfolgten zwar Verurteilungen wegen rechtsgerichteter Straftaten, (…). Die zunehmende Radikalisierung rechtsextremer Strukturen wurde nicht erkannt, folglich wurde auch politisch nicht ausreichend gegengesteuert.“

„Für die gezielte Gründung oder den Aufbau von Strukturen der extremen Rechten konnte der Untersuchungsausschuss keine Belege finden. Allerdings gibt es hinreichend Gründe, von einer mittelbaren Unterstützung und Begünstigung derartiger Strukturen durch das TLfV (Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz) zu sprechen. So wurden an Tino Brandt als V-Mann des TLfV neben Sachmitteln übermäßig hohe Prämien ausgereicht und dieser so in die Lage versetzt, Geld- und Sachmittel in den Aufbau und das Funktionieren des Thüringer Heimatschutzes (THS) zu stecken sowie Reisen, Propagandamaterialien und Aktionen zu finanzieren.“ (…)

Die im Anschluss an die sog. Garagendurchsuchung und das Untertauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe durchgeführte Fahndung nach den Untergetauchten ist in einem so erschreckenden Ausmaß von Desinformation, fehlerhafter Organisation, Abweichungen von üblichem Vorgehen und Versäumnissen bei der Verfolgung erfolgversprechender Hinweise und Spuren durchsetzt, dass es dem Ausschuss nicht mehr vertretbar erscheint, hier nur von ‚unglücklichen Umständen‘, ‚Pannen‘ oder ‚Fehlern‘ (…) zu sprechen. Im günstigsten Fall steht hinter dem festgestellten umfassenden Versagen vieler Akteure schlichtes Desinteresse am Auffinden der drei Gesuchten im Vergleich zu anderen Aufgaben, die den damals Handelnden möglicherweise tagesaktuell wichtiger erschienen. Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu. Die Geschichte der von 1998 bis 2003 von allen daran Beteiligten betriebenen bzw. nicht betriebenen Fahndung ist im Zusammenhang betrachtet ein einziges Desaster. (…) Mit der Zurückhaltung wichtiger Informationen, die die Ermittlung des Aufenthalts der Flüchtigen hätten voranbringen können und deren Verbindungen zur Vorbereitung und Durchführung von Banküberfällen nahegelegt hätten, hat das TLfV zumindest mittelbar die Flüchtigen geschützt“

Wurden alle Möglichkeiten zur Aufklärung genutzt?

„Nein. Das TLKA (Thüringer Landeskriminalamt) hat die Suche nach den Flüchtigen der Zielfahndungseinheit und dem TLfV überlassen und in seiner Abteilung Staatsschutz pflichtwidrig weder die Ergebnisse und Erkenntnisse zusammengeführt noch die erforderlichen Bewertungen vorgenommen. (…) Eine kontinuierliche Begleitung und gemeinsame Fortführung von Ermittlungen blieb aus.“

Frage: „War das TLfV an dem Untertauchen der drei Personen im Januar 1998 beteiligt oder informiert? Wenn ja, wie und aus welchen Motiven? Wie wird dies auch rechtlich gerechtfertigt?

Hinweise für eine direkte Beteiligung des TLfV am Untertauchen der Flüchtigen gibt es nicht. Es stellen sich aber Fragen zu den vom TLfV gegebenen Informationen und seinen eigenen Ermittlungsmaßnahmen. Das TLfV teilte dem TLKA kurz nach dem Untertauchen mit, die Flüchtigen befänden sich auf dem Weg nach oder bereits in Belgien mit dem Ziel der Weiterreise in die USA. Dies erwies sich im Nachgang als eine Fehlinformation. Wie und warum es zu dieser Fehlinformation kam, konnte nicht geklärt werden.“

Frage nach Verwendung des Geldes für die Beschaffung falscher Pässe:

„Da das Geld letztlich nicht für Pässe verwendet wurde, kann nicht einmal ausgeschlossen werden, dass es in den Kauf der Ceska floss.“ Dies war die Tatwaffe, mit der die Morde begangen wurden.

Frage nach V-Leuten im Umfeld des Trios

Es gab etliche V-Personen im Umfeld des Trios, wie sich aus der Beantwortung der nachfolgenden Frage ergibt.“

Frage zu Informationspraxen zwischen Behörden

„Neben einzelnen Informationen, die offenbar direkt an die Zielfahndung beim TLKA weitergereicht worden sind, scheint eine regelmäßige Unterrichtung, insbesondere an das TIM, nicht erfolgt zu sein.“ (…) „Wie bereits dargestellt, wurden dem TLfV am geltenden Recht und dem Trennungsgebot vorbei polizeiliche Fahndungsmaßnahmen überlassen, auf die Ausführungen unter A.I.3 wird verwiesen. Das TLfV hat seine im Thüringer VSG eingeräumten Befugnisse andererseits auch „unterschritten“. Es hat von dem ihm eingeräumten Ermessen zur Weitergabe von Informationen an Strafverfolgungsbehörden fehlerhaft Gebrauch gemacht und wichtige Erkenntnisse, wie die Hinweise auf die Begehung von Straftaten zur Geldbeschaffung und eine bevorstehende Versorgung mit Waffen, pflichtwidrig nicht den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt.“

Frage, ob Bönhardt hätte festgenommen werden können und müssen:

„(…) Der Untersuchungsausschuss hat sich ausführlich mit den zahlreichen Unzulänglichkeiten bei der Garagendurchsuchung befasst und kommt zum Schluss, dass Uwe Böhnhardt damals vor Ort hätte festgenommen werden können und müssen.“

IV. Analyse und
Kommentierung der Berichte und die Frage des institutionellen Rassismus

Die Liste der Fehleinschätzungen, Versäumnisse, Regelverstöße seitens des Landeskriminalamtes und der Landesverfassungsschutzes in Thüringen ist eindrücklich und im Zusammenspiel haben die bundesweit und in den einzelnen Bundesländern von der Logik rassistischer Einteilungen geleiteten Ermittlungslogiken und -praxen den Effekt, dass bekanntermaßen rechtsextreme, mit Sprengstoff ausgerüstete und mutmaßlich bewaffnete Rechtsterrorist_innen mehrfach nicht verhaftet wurden, obwohl dies möglich war und hätte geschehen müssen. Heribert Prantl schreibt am 23. August in der Süddeutsche Zeitung (vgl. http://epaper.sueddeutsche.de/app/service/epaper-mobil/article.php?id=2197505&etag=1408744800 ; Zugriffsdatum 24.08.2014) von einem mutigen Bericht des Thüringer Landtages – und einem furchtbarer Verdacht. „Der Staat hat sich schuldig gemacht – zumindest durch brutale Untätigkeit. Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Landesverfassungsschutz das nicht verhindert hätte. Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass gesuchte und flüchtige Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat die Neonazi-Szene vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat mit dieser Szene in einer Weise gearbeitet, die die Juristen Kollusion nennen: Er hat verdunkelt und verschleiert. Gäbe es ein Unternehmensstrafrecht für Behörden: Dieser Verfassungsschutz verdiente die Höchststrafe – seine Auflösung. Und die Polizei? Sie hat nicht ermittelt, wo ermittelt hätte werden müssen. Es herrschte ein Klima des Wegschauens. (…) Aus den Recherchen des U-Ausschusses ergibt sich weit mehr als nur ein Anfangsverdacht gegen Beamte. Der dringende Verdacht handelt von Verfolgungsvereitelung und von strafbarer Helfershelferei.“ (Prantl 2014: Süddeutsche Zeitung 23./24. August 2014, S. 5) Und in der taz wird am Ende eines Kommentars zum Bericht aus Thüringen die Frage gestellt: „Und über all dem Wahnsinn, der sich in Thüringen einmal mehr offenbart hat, bleibt die eine große Frage weiterhin stehen: Hätten die Behörden so gehandelt, wenn die Opfergruppe eine andere gewesen wäre? Reden wir also über Rassismus!“ (http://www.taz.de/!144643/ Kommentar NSU-Ausschuss in Thüringen; Zugriffsdatum 24.08.2014)

Die Frage, ob die Polizei, die Verfassungsschutzbehörden und die Staatsanwaltschaften sowie Innenministerien anders gehandelt hätten, wenn es sich um eine andere, also um eine nicht-migrantische Opfergruppe gehandelt hätte, muss anhand der Berichte mit „Ja“ beantwortet werden. Es gibt systematischen institutionellen Rassismus bei der Polizei und den Behörden in Deutschland.

Dies wird auch in der Erklärung der Opferanwält_innen der NSU-Morde beschrieben: (…) Wir haben aber vor allen Dingen von unseren Mandantinnen und Mandanten erfahren, wie sie nach den Taten jahrelang selbst im Fokus der Ermittlungen stehen mussten. Das heißt:

– Hinterbliebene und Verletzte fordern die Anerkennung auch in der Politik, dass das systematische Versagen der Ermittlungsbehörden auf institutionellem Rassismus beruht. Das Problem muss klar benannt werden. Alles andere wäre Augenwischerei. Morde hätten verhindert werden können. (…)

– Bei jedem Gewaltverbrechen muss in Zukunft frühzeitig und nachvollziehbar in den Akten vermerkt und begründet werden, wenn die Ermittlungsbehörden der Auffassung sind, dass eine rassistisch oder neonazistisch motivierte Tat ausgeschlossen werden kann. (…)

– Wir fordern eine Ausbildung und stetige Qualifikation aller Polizeibeamten, die institutionellem wie individuellem Rassismus entgegenwirkt. Zudem müssen gut ausgebildete und szenekundige Abteilungen bei den Landespolizeien neu aufgebaut und neu besetzt werden, die sich spezifisch mit rechter Gewalt beschäftigen und allgemeine Abteilungen für "Staatsschutzdelikte" ersetzen. Diese Ermittlungsgruppen müssen zukünftig immer dann zwingend an den Ermittlungen beteiligt werden, wenn ein rechter Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann.

– Bei den Staatsanwaltschaften müssen Abteilungen gebildet werden, die für rechte Gewalttaten gesondert zuständig und ausgebildet sind. Abteilungen, die allgemein für "politisch motivierte" Taten oder gar zusätzlich für Delikte von und gegen Polizeibeamte zuständig sind, genügen dafür keinesfalls.

– Opfer rechter Gewalt seit 1990 sind lückenlos entsprechend der Liste der Amadeu Antonio Stiftung, der "Zeit" und des "Tagesspiegels" als solche anzuerkennen.

– Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt müssen erhalten, flächendeckend ausgebaut und gefördert werden.

– Es sind auf Landes- und Bundesebene Kontrollgremien einzuführen, die als unabhängige Ansprechpartner für Betroffene von institutionellem oder persönlichem Rassismus durch die Ermittlungsbehörden oder für "Whistleblower" in solchen Fällen zur Verfügung stehen. Diese sollten mit effektiven Kontrollbefugnissen ausgestattet und durch das Parlament eingesetzt werden.“

Diese Forderungen gilt es umzusetzen, ebenso wie systematische Anstrengungen gegen institutionellen Rassismus in der Polizei, anderen Behörden und der Politik. Hierzu bedarf es sowohl rassismuskritischer (nicht interkultureller!) Fortbildungen, als auch klarer Thematisierungen und Interventionen gegen rassistische und andere diskriminierenden Handlungspraxen.
   
   
    Verwendete und weiterführende Literatur
    Amadeu-Antonio-Stiftung 2012: Das Kartell der Verharmloser. Wie deutsche Behörden systematisch rechtsextremen Alltagsterror bagatellisieren. Berlin
    Deutscher Bundestag 2013: Deutscher Bundestag Drucksache 17/4600. 17. Wahlperiode 22. 8. 2013 Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes. Berlin
    Jakob, Cristian (2013): Rechtsstaat, was machst du? Taz http://www.taz.de/Kommentar-Justizversagen-Fall-Oury-Jalloh/!127384/
    Glet, Alke (2010): Sozialkonstruktion und strafrechtliche Verfolgung von Hasskrimininalität in Deutschland. Eine empirische Untersuchung polizeilicher und justizieller Definitions- und Selektionsprozesse bei der Bearbeitung vorurteilsmotivierter Straftaten. Berlin
    Landtag Thüringen (2014): Bericht "Rechtsterrorismus und Behördenhandeln" (Zugriffsdatum 23.08.2014) Dieser kann unter folgendem Link heruntergleaden werden: http://www.thueringer-landtag.de/landtag/aktuelles/data/80919/index.aspx 21.08.2014
    McPherson Report (1999): The Stephen Lawrence Inquiry Report of an Inquiry by Sir William MacPherson of Cluny, recherchiert am 21.06.2003, in: http://www.archive.official-documents.co.uk/document/cm42/4262/4262.htm