ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 38 / August-Oktober 2015

Weder Heimat noch Fremde
Transnationale Lebensräume von deutsch-türkischen Akademikerinnen in der Türkei
[Ne Yurtta, Ne Gurbette]




Nora WARRACH & Markus GAMPER




Die Migrationsgeschichte zwischen Deutschland und der Türkei ist zum festen Bestandteil soziologischer Herangehensweisen geworden.1 Dabei werden häufig die soziokulturellen2 und politischen3 Folgen des Migrationsprozesses sowie die Entwicklungen des Zusammenlebens von Minderheits- und Mehrheitsgesellschaften in Deutschland in den Fokus genommen4. Nach jahrzehntelangem problemzentriertem sowie defizitorientiertem Diskurs um die Integration der sogenannten „Gastarbeiter_innen“ in den Humanwissenschaften, befassen sich sozialwissenschaftliche Disziplinen aktuell mit der Abwanderung bzw. „Rückkehrmigration“ türkeistämmiger Hochqualifizierter5 in die Türkei, wie Studien von Sievers et.al.6, Alkan7 und Aydýn8 zeigen. Jedoch weiß man bisher wenig über hochqualifizierte Frauen, die ihren Lebensmittelpunkt in das Herkunftsland ihrer Eltern verlegen. Dabei sind insbesondere die Migrations- und Bildungsbiographien türkeistämmiger Frauen der Zweiten Generation vor diesem Hintergrund interessant, da diese durch die Ausgestaltung der Migrations- und Geschlechterforschung noch als relativ junges Forschungsinteresse gelten9.

In einem Forschungsprojekt der Universität zu Köln und der Universität Innsbruck werden die transnationalen Lebensräume akademischer Frauen in der Türkei erforscht, die im Gegenteil zu den häufig problematisiert dargestellten Biographien einen hohen Bildungsabschluss erzielt und das ihnen vertraute Leben in Deutschland gegen einen Ort, der weder Heimat noch Fremde ist, getauscht haben. Hierfür wurden acht Akademikerinnen der Zweiten Generation aus sogenannten „Gastarbeiterfamilien“, die freiwillig und selbständig von Deutschland in die Türkei migriert sind, biographisch-narrativ interviewt.

Dabei sind die Gründe für die Auswanderung in die Türkei zwar höchst individuell, lassen sich jedoch im Rahmen einer ersten Eindrucksanalyse in drei Kategorien zusam-menfassen und veranschaulichen, wobei sich die Gründe im Einzelfall auch überschneiden.

Warum wandern die Frauen in die Türkei aus?

Für einige der interviewten Frauen10 spielte die Nähe zu ihrem zukünftigen Ehemann eine entscheidende Rolle, sie wanderten aus Liebe aus. Dabei ist es interessant, dass die Frauen, die ein in Deutschland verankertes Leben führen, türkische Männer ohne jeglichen Bezug zu Deutschland kennenlernen. Dies sind nicht selten Bekanntschaften, die in den Sommerurlauben entstehen und sich durch den Einsatz neuerer Medien zu transnationalen Liebensbeziehungen über Ländergrenzen hinweg entwickeln. Deniz (*1986) erzählt von dieser Fernbeziehung wie folgt: „Ich kam ja jedes Jahr eigentlich in die Türkei und so haben wir uns halt kennengelernt. Dann haben wir natürlich Fernkontakt gehabt. (...) Halt auch über MSN damals noch, Telefon, und so weiter und so fort“ (Deniz 2014). Bei der Frage, ob der Ehemann nach Deutschland oder die Frau in die Türkei auswandern solle, war die Entscheidung für ein gemeinsames Leben in der Türkei meist der einfachere Weg: Die Chancen auf Integration in den türkischen Arbeitsmarkt sind für die Frauen durch Anrechnung ihrer in Deutschland erlangten Qualifikationen höher, als es umgekehrt für den Ehemann wäre, zusätzliche verfügen sie über Sprachkenntnisse und haben bereits einen familiären Bezug zu dem Land. Bei Zülal (*1981) war zunächst geplant, dass sie in die Türkei gehen würde „... ursprünglich war es sowieso geplant, dass ich dann hierhinkomme, weil mein Mann Musiker ist und in der Türkei hatte er/ also er ist auch Studiomusiker und hat hier die besseren Möglichkeiten einfach seine Musik zu machen“ (Zülal 2014). Zwischendurch überlegten sie nochmals ob vielleicht doch der Mann nach Deutschland kommen sollte, „... das war so ein ständiges Hin und Her. Und irgendwann habe ich dann gesagt ’okay, ich komme’“ (Zülal 2014).

Neugierde auf den Ort, der weder Heimat noch Fremde für die Frauen darstellt, war ein weiteres Motiv einiger Frauen, die dort auch Abenteuer suchten. „Für sie war es eine Heimat in die sie zurück sind11, aber für mich war’s wirklich eher ein bisschen auch ein Abenteuer und Neugier wie gesagt. Weil ich einfach mal sehen wollte, wie es ist woanders zu leben“ (Turnschuh 2014), sagt beispielsweise Turnschuh (*1977). Praktische Gründe, wie Sprachkompetenz und die Anerkennung der Bildungsabschlüsse waren hierbei entscheidend für die Auswanderung, aber auch die Neugier, das „Herkunftsland“ besser kennenzulernen. Wichtig war zusätzlich der Faktor, dass die Türkei einen gewissen Lebensstandard und wirtschaftliches Potential besitzt und sie dort ihre Chancen sahen ihre in Deutschland erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen einzubringen. Die Dauer des Aufenthalts war bei vielen zum Zeitpunkt der Ausreise noch nicht im Detail und vorerst als Probephase geplant, wie die Aussage Turnschuhs verdeutlicht: „... ich hab damals, als ich hierher gekommen bin, hab ich das wirklich nur zum Ausprobieren angefangen und dann hab ich mir immer gedacht, ich kann immer wieder zurück wenn’s nicht klappt. Und dann hat’s geklappt und ich war auch wie gesagt niemals, ich hab’s nie bereut, absolut nicht“ (Turnschuh 2014).

Ein drittes Motiv ist die Sehnsucht nach dem Land, in dem die Wurzeln der Eltern liegen; sie ersehnen eine intensivere Zeit mit der Familie, den Traditionen und einem erfüllteren türkischen Leben. Einige beschreiben ihr Leben in Deutschland als Vorbereitung auf ihr Leben in der Türkei, wie die Aussage Berils (*1986) bestärkt: „... letztendlich bin ich jetzt seit vier Jahren hier und ich hab den Schritt eigentlich überhaupt nicht bereut, weil Deutschland war für mich, obwohl ich dort geboren bin eigentlich ich hab die Zeit dort genutzt, um einen deutschen Abschluss zu machen, damit ich bessere Chancen hier in der Türkei habe, also eigentlich, mein ganzes Leben dort kann ich eigentlich jetzt so sagen, war eigentlich eine Vorbereitung für mein Leben hier“ (Beril 2014). Ebenso bestätigt auch Rüya (*1983) diesen Wunsch und erzählt „...es war schon gezielt von klein auf, dass ich halt hierherkommen wollte, obwohl ich dort geboren und aufgewachsen bin“ (Rüya 2014). Nicht selten wird dieser Wunsch durch Rückkehrgedanken der Eltern geprägt, sodass sich das Leben in Deutschland anfühlt als würden sie „auf gepackten Koffern sitzen“, es dann aber nie zu der gemeinsamen Rückkehr kommt. Beril bestätigt dieses Gefühl und erzählt, dass sie „...eigentlich seit meiner Kindheit mal irgendwo in Gedanken hatte, irgendwann mal in die Türkei zu ziehen. Das ist auch etwas was durch meine Eltern ein bisschen kommt. (...) für mich war das eigentlich schon klar, dass meine Eltern das nicht wirklich schaffen zurückzukommen. (Lachen) Das ist ein Traum von denen, ich weiß auch, dass es ihr Traum ist, immer noch ist. “ (Beril 2014).

Transnationale Lebensräume

Trotz unterschiedlicher Auswanderungsmotive zeigen sich Parallelen hinsichtlich der transnationalen Lebensräume12. Dies zeigt sich unter anderem am Beispiel Arbeitsmarkt und Eheleben/Familie der interviewten Frauen.

In der Arbeitswelt zeigt sich ein starker Bezug zu Deutschland. Die Frauen arbeiten häufig im Kundenservice wo sie deutschsprachige Kund_innen betreuen, sie sind in deutsch-türkischen In- und Exportunternehmen, oder als Germanistikexpertinnen in wissenschaftlichen Berufen tätig. Ihr transnationales kulturelles Kapital gestaltet sich somit als Voraussetzung für die Integration in den Arbeitsmarkt. Dieser Bezug zu Deutschland im Arbeitsleben wird häufig bewusst von den Frauen gesucht. Zum Beispiel berichtet Pelin, dass sie derzeit einen unbefristeten Job habe, den sie im Fall einer Rückkehr nach Deutschland weiterführen könne „... weil die Firmen sind ja in Deutschland. (...) Das ist natürlich schon so ein gutes Gefühl, dass wenn man irgendwann doch mal zurückgehen möchte, dass man dann da wirklich auch erst mal abgesichert ist. “ Daher hatte sie bei ihrer Arbeitssuche bewusst nach einer Arbeitsstelle mit Deutschlandbezug gesucht. Beril beschreibt ihre Deutschkenntnisse als „mein Steckenpferd, meine Advantage, mein Vorteil“, den sie aktiv im Arbeitsleben nutzt.

Obwohl die Ehemänner keinen direkten Bezug zu Deutschland haben, bemühen sich die Frauen ihren in der Türkei geborenen Kindern einen Zugang zur deutschen Sprache zu ermöglichen. „Ich möcht’ ihn zum Beispiel zweisprachig aufziehen auf jeden Fall und ich schau, dass ich auch ständig Deutsch mit ihm rede“ (Turnschuh 2014), erzählt Turnschuh über die Erziehung ihres Sohnes. Bei einigen Frauen hat die Auswanderung auch eine starke Auswirkung auf die Lebensweise der in Deutschland lebenden Familie. Beispielweise reisen die Eltern öfter und länger in die Türkei und die Geschwister entwickeln zum Teil einen stärkeren Bezug zum Leben in der neuen „Wahlheimat“. „Meine Mutter und meine kleine Schwester sind dann auch mitgekommen“, berichtet Turnschuh. Für die Familien spannt sich somit eine neue transnationale Lebenswelt auf.

Fazit

Die Auswanderung deutsch-türkischer Frauen in die Türkei hat unterschiedliche Motive, die sich teilweise überschneiden und nie monokausal sind. Häufig spielen Liebe, die Suche nach einem Neuanfang oder die Sehnsucht nach den Wurzeln ihrer Identität eine bedeutende Rolle, wie sich aus ihren Migrations- und Bildungsbiographien eruieren lässt. Durch die Wanderung in die Türkei, die einen Ort zwischen Heimat und Fremde darstellt, ergeben sich neue transnationale Räume, in denen kulturell-hybride Identitäten entstehen, die von den Frauen aktiv genutzt werden. Dies spiegelt sich unter anderem im Arbeits- und Familienalltag wider, denn beide Lebensbereiche zeigen, dass trotz des Lebens in der Türkei die deutsche Sprache sowie kulturelle und ökonomische Kenntnisse von Bedeutung sind. Hierdurch gestalten sich in der Türkei transnationale Lebensräume der Frauen, wodurch sie sich einerseits losgelöst von nationalstaatlichen Grenzen ihre Identität entwickeln, und sich zum anderen die Türkei zu einem Ort zwischen Heimat und Fremde gestaltet.



     
    1 Wir danken dem Global South Studies Center der Universität zu Köln für die finanzielle Unterstützung zur Realisierung der Forschungsreise.
   2 vgl. Heckmann, F. (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.
   3 vgl. Bozay, K. (2005): „...ich bin stolz, Türke zu sein!“ Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung. Schwalbach: Wochenschau Verlag.
   4 vgl. Treibel, A. (2008): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht., 4. Aufl. Weinheim und München: Juventa Verlag.; vgl. Schiffauer, W. (2011): Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: transcript-Verlag.
   5 Nach §19 (2) des Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet gelten als Hochqualifizierte (a) Wissenschaftler/-innen mit besonderen fachlichen Kenntnissen, (b) Lehrpersonen oder wissenschaftliche Mitarbeiter/-innen in herausgehobenen Funktion oder (c) Spezialisten und leitende Angestellte mit besonderer Berufserfahrung, die ein Gehalt i.H.v. mindestens der Beitragsbemessungsgrenze der allgemeinen Rentenversicherung erhalten. vgl. Aydýn, Y. (2010): Der Diskurs um die Abwanderung Hochqualifizierter türkischer Herkunft in die Türkei. Hamburgisches Welt WirtschaftsInstitut, S. 3, http://www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/HWWI_Policy_Paper_3-9_01.pdf (Zuegriffen: 26.08.2013).
   6 vgl. Sievers, I., Griese, H. M. (2010): Bildungs- und Berufsbiografien erfolgreicher Transmigranten. http://www.bpb.de/apuz/32371/bildungs-und-berufsbiografien-erfolgreicher-transmigranten?p=all (Zugeriffen: 26.02.2014).
    7 vgl. Alkan, M. N. (2011): Transmigranten auf dem Weg in die Heimat? Weinheim, München: Juventa Verlag, http://www.kas.de/wf/doc/kas_30713-1522-1-30.pdf?120504113245 (Zugegriffen: 30.01.2014).
   8 vgl. Aydýn, Y. (2013): »Transnational« statt »nicht integriert«. Abwanderung türkeistämmiger Hochquali-fizierter aus Deutschland. Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft.
   9 vgl. Gutiérrez Rodríguez, E. (1999): Intellektuelle Migrantinnen - Subjektivitäten im Zeitalter von Globali sierung. Eine postkoloniale dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverhältnis von Ethni sierung und Vergeschlechtlichung. Opladen: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. vgl. Lutz, H. (2004): Migrations- und Geschlechterforschung: Zur Genese einer komplizierten Beziehung. In: Becker, Ruth (Hrsg.): Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Metho den, Empirie. Wiesbaden: VS Verlag.
   10 Die Interviewpartnerinnen haben sich selbständig Pseudonyme gegeben, die in diesem Artikel verwendet werden.
   11 Sie meint ihre Eltern, Anmerkung N.W.
   12 vgl. Gamper M./Fenicia T./Schönhuth M. (2013): Transnationale Netzwerke, Sozialkapital und Migration - eine triangulative Studie über die Vernetzung von Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion. In: Herz, A./Olivier, C. (Hrsg.): Transmigration und Soziale Arbeit. Theoretische Herausforderungen und ge-sellschaftliche Praxis. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 249-272.; vgl. Dahinden, J. (2009): Neue Ansätze in der Migrationsforschung. Die transnationale Perspektive., In Terra Cognita. Schweizer Zeitschrift zu Integration und Migration 15, S. 16-19. http://www.terra-cognita.ch/fileadmin/user_upload/terracognita/documents/terra_cognita_15.pdf (Zugegriffen 04.02.2014).