Der Begriff der falschen Projektion entstammt dem Beitrag "Elemente des Antisemitismus" aus der "Dialektik der Aufklärung" von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (Horkheimer und Adorno 1997 (1969)). Das 1944 erstmalig publizierte Werk beschreibt das bedrohliche Schwanken der Gesellschaft zwischen Zivilisation und Barbarei. Unter dem Eindruck des Holocausts befassen sich die beiden Autoren mit dem erschreckenden Phänomen, dass die moderne Gesellschaft die Aufklärung nicht zugunsten der Menschwerdung wahr werden lässt, sondern vielmehr in barbarische Zustände der Unterdrückung und Zerstörung menschlichen Lebens kippt. Warum dies möglich werden konnte, erklären Adorno & Horkheimer unter anderem mit dem Prozess der "falschen Projektion". Ausgehend davon, dass Wahrnehmung immer Projektion beinhaltet, ist Projektion als eine Tätigkeit zu verstehen, die jeder Mensch in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt leisten muss. Die Überbrückung zwischen der eigenen Sinneswelt und der aussenstehenden Umwelt stellt eine unumgängliche Tätigkeit dar, indem sich die Vielfalt der Aussenwelt in einer bestimmten Weise in der individuellen Sinnenwelt abbildet. Dabei handelt es sich um eine Projektion, welche der einzelne Mensch unter Verwendung eigener Kategorien und Denkmuster herstellt. Nun kann dieser Prozess bewusst geschehen, indem die individuelle Projektionsleistung hinsichtlich der eigenen Kategorien und Denkmuster reflektiert wird. Adorno & Horkheimer sprechen hierbei von einer "bewussten Projektion", wenn die Überbrückung zwischen den eigenen Kategorien und der Aussenwelt in die Reflexion eingeholt wird.
"Nicht in der vom Gedanken unangekränkelten Gewissheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeigt die Möglichkeit von Versöhnung sich an" (Horkheimer und Adorno 1997 (1969), S. 214).
Findet diese Projektion nicht bewusst statt, handelt es sich um eine pathische oder eine falsche Projektion. Die Projektion ist deshalb falsch, weil das Gegenüber, respektive die Umwelt der eigenen Wahrnehmung versucht wird ähnlich zu machen. Die bewusste Projektion beschreibt den Prozess, sich selber der Umwelt ähnlich machen zu wollen und damit die Eigenheiten des Gegenübers zu bewahren. Adorno hat diese Richtung der Erkenntnis mit der Liebe definiert, die in der Fähigkeit besteht, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen, ohne das Unähnliche gleichsam einzuebnen (Adorno 1969).
Der Begriff der Mimesis beschreibt diesen Prozess, sich auf das Gegenüber einzulassen, das Andere nachzuahmen und daraus zu lernen (Benjamin 1987). Die falsche Projektion schliesst diese Reflexionsleistung aus und projiziert eigene Regungen auf das Gegenüber, insbesondere allerdings solche, die der einzelne selber sich nicht zugestehen getraut. Es kommt im psychoanalytischen Sinne zur Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen auf das Gegenüber (Horkheimer und Adorno 1997 (1969), S. 217). Dadurch kommt es zu Projektionen auf andere Menschengruppen, denen konkrete Eigenschaften zugeschrieben werden. Dies geschieht vor allem über die Bereiche, die selber mit bisweilen als ungerechtfertigt wahrgenommenen Einschränkungen verbunden sind: "Das zwangshaft projizierende Selbst kann nichts projizieren als das eigene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnenden Grund es doch in seiner Reflexionsleistung abgeschnitten ist" (Horkheimer und Adorno 1997 (1969), S. 217). Der wahre Grund des eigenen Unglücks kann nicht eruiert werden, hingegen kommen konkrete Gruppen als Projektionsflächen zur ablenkenden Rechtfertigung des eigenen Scheiterns an der Reflexion gelegen.
Bezogen auf konkrete Alltagssituationen kann davon gesprochen werden, dass die von der falschen Projektion betroffenen Gruppen an Menschen weitgehend austauschbar sind. Allerdings sind es aktuell des öftern Menschen in benachteiligten Lebenssituationen, die zu Objekten falscher Projektionen werden. In der Schweiz zeigt sich das an der von rechtskonservativer Seite geförderten Diskussion um "Sozialhilfeschmarotzer", "Scheininvalide" etc., welche die Bezüger von staatlichen Unterstützungsleistungen als potentielle Betrüger zu diffamieren versuchen (vgl. die Kritik bei Hassler 2016; Wyss 2007). Diese Perspektive bezieht sich auch zusehends auf Flüchtlinge und generell Menschen, die in die Schweiz einwandern. Es verfestigt sich ein Denken, welches die Menschen entlang von bestimmten Kategorien ordnet: Flüchtling, politischer Flüchtling, Wirtschaftsflüchtling, etc.. Ein Denken, welches die Sachlagen nicht mehr in Gänze zu verstehen versucht, sondern vielmehr an den Kategorien festhält, welche die eigene Perspektive gleichsam stabilisieren. "Anstatt weiter zu gehen, indem es in die Sache eindringt, tritt das ganze Denken in den hoffnungslosen Dienst des partikularen Urteils" (Horkheimer und Adorno 1997 (1969), S. 220). In die Sache eindringen würde bedingen, sich mit den konkreten Lebensverhältnissen von Flüchtlingen zu beschäftigen, ein Bewusstsein über die eigene Wahrnehmung von Flucht zu entwickeln, reale Erfahrungen zuzulassen und die Energie nicht darauf zu verwenden, Stereotypen und Klischees zu reproduzieren. Die Kritische Theorie setzt mit dem Begriff der falschen Projektion bei den Menschen an, welche die tabuisierten Regungen nicht mehr auf die eigenen Lebensbedingungen beziehen können. "Gesellschaftliche Zwänge verbieten es, mit bestimmten inneren Regungen und Wünschen, wie etwa dem, nicht an Haus und Arbeit gefesselt sein zu müssen, gedanklich sich auseinander zu setzen, was bedeutet, dass sie verdrängt werden müssen" (Wyss 2015). Aus aktuellem Anlass konkret zu beobachtender rassistisch und nationalistisch orientierter Zuschreibungen und Abwertungen drängt es sich auf, diese Entwicklungen unter dem Aspekt falscher Projektion zu beleuchten. Hieraus ergeben sich für Politik und Pädagogik im Mindesten Hinweise auf eine theoretisch fundierte kritische Praxis, die sich vereinfachten Kategorisierungen entzieht. Oder in den Worten Adornos, die nicht oft genug zitiert werden können: "Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung" (Adorno 1997 (1966), S. 88).
Literatur:
Adorno, T. W. (1969). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Adorno, T. W. (1997 (1966)). Erziehung nach Auschwitz. In T. W. Adorno (Hrsg.), Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969 (S. 88-104). Frankfurt/M: Suhrkamp.
Benjamin, W. (1987). Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Hassler, B. (2016). Arbeitsmarktfähigkeit unter Beobachtung. ,,Scheininvalidität“ in der Schweiz. In W. Aschauer, E. Donat & J. Hofmann (Hrsg.), Solidaritätsbrüche in Europa. Konzeptuelle Überlegungen und empirische Befunde aus dem deuschsprachigen Raum (S. 171-189). Wiesbaden: VS-Verlag.
Horkheimer, M., & Adorno, T. W. (1997 (1969)). Elemente des Antisemitismus. In M. Horkheimer & T. W. Adorno (Hrsg.), Dialektik der Aufklärung (S. 192-234). Frankfurt/M: Suhrkamp.
Wyss, K. (2007). Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus. Zürich: Edition 8.
Wyss, K. (2015). Bewusste versus falsche (pathische) Projektion (2. Teil); publiziert am 7.2.2015. Retrieved from http://www.wyss-sozialforschung.ch/kommentare/kkkkommentare/k0110/index.html
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