Die Bundesrepublik Deutschland tut sich in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung immer noch schwer damit, anzuerkennen, dass sie eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist. Darin spiegelt sich eine Schwierigkeit im Umgang mit der faktischen inneren gesellschaftlichen Diversität, die keineswegs ein neues Phänomen darstellt, die aber bisher nicht in das Selbstbild der meisten Deutschen integriert ist. Dies lässt sich auf die in der politischen Kultur des Landes stark verankerte Vorstellung einer nationalen Homogenität zurückführen. Dieses Wir-Bild stellt eine nationale Gemeinschaft her und wehrt neue Zugehörigkeiten ab. Deutsche können dabei weder Schwarze, noch Sinti, noch Muslime sein, ohne gefragt zu werden, woher sie ‚eigentlich’ kommen. Auch die Herkunftsgesellschaften der Familien, die vor zwei oder drei Generationen nach Deutschland immigriert sind, werden nationalkulturell homogen repräsentiert, so als lebte dort ausschließlich eine immer schon ansässige Bevölkerung ursprünglich gleicher Abstammung. Implizit folgen derartige nationale und internationale Wahrnehmungen einem nationalistischen Konzept. Hinsichtlich des gesellschaftlichen Bewusstseins könnte man also von einer Prä-Migrationsgesellschaft sprechen, während längst postmigrantische Generationen entstanden sind (vgl. Yýldýz 2010). Erol Yýldýz beschreibt damit eine Alltagspraxis, die Sortierungen nach Abstammung und nationaler Herkunft unterläuft und in der beansprucht wird, auf vielfältige Weise dazu zu gehören, ohne jede Differenz abstreifen zu müssen. Der festgefügten Kategorie nationaler Identität werden hier die vielfältigen Praktiken alltäglicher Beziehungen und Lebensformen gegenüber gestellt.
Abwehr durch Praktiken des Fremdmachens
In dieser gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeit erscheint eine migrationsgesellschaftliche Öffnung der Bildungsinstitutionen gewissermaßen von gestern. Sie kommt verspätet daher. Deshalb bietet die Bezeichnung ‚Migrationsgesellschaft’ mit dem Signalwort Migration immer noch die Gelegenheit, nicht über sich selbst, sondern über andere zu sprechen. Denn obwohl mit diesem Begriff eine Kennzeichnung gegenwärtiger gesellschaftlicher Erfahrungen und weltweiter Normalität angeregt wird, setzt sich eine personifizierende und abgrenzende Sicht auf „Migrant_innen“ immer wieder durch, die national-kulturell ethnisiert und als „Migrationsandere“ positioniert werden (vgl. Mecheril 2004, S. 36). Ihr Anderssein wird pädagogisch und psychologisch untersucht, anstatt die Perspektive zu wechseln und die Prozesse zu betrachten, die Eingewanderte zu Gruppen machen und sie dabei zugleich fremd machen.
Schule und Universität bieten als allgemeine Bildungsinstitutionen, die den Anspruch haben, Chancen zu eröffnen, potenziell die Möglichkeit, Migration als den Normalfall der Gegenwart anzuerkennen. Doch der Normalfall Migration trifft auf die Macht der Nationalität, die nach wie vor das einflussreichste Kriterium für die Zuteilung von Rechten in Europa und weltweit geblieben ist. Demgegenüber dient der Begriff der Migrationsgesellschaft als Konzept, mit dem ein „dritter Raum“ (Bhabha 2000) neben den Gegenüberstellungen von ‚Deutschen’ und ‚Minderheiten’ (bzw. Migrant_innen) artikulierbar wird. Doch ehe überhaupt die Selbstbeschreibung als Einwanderungsgesellschaft etabliert werden konnte, zieht der Begriff Zuwanderung eine neue Grenze. Mit ihm wird die Rede von einer „Einwanderungsgesellschaft“ vermieden, da mit dieser ein allzu großes Maß an innerer Veränderung signalisiert würde. Demgegenüber bleibt ‚Zuwanderung’ etwas Äußerliches, dem ein Ankommen im Inneren der Gesellschaft nicht möglich sein soll. „Jemand, der zuwandert, kann auch schnell wieder abwandern, hat es nicht in die Bevölkerung hinein geschafft (…)“ (Utlu 2011, S. 448, Hervorh. im Original). Das macht es einfacher, Eingewanderte fremd zu machen und Alltagsroutinen zu etablieren, die Zugänge zu den Institutionen und Aufstiegsmöglichkeiten erschweren. Im Bildungsbereich wird in diesem Zusammenhang von „institutioneller Diskriminierung“ gesprochen (vgl. Gomolla 2011). Solange Migration nicht als innere Wirklichkeit der eigenen Gesellschaft anerkannt wird, bleibt eine migrationsgesellschaftliche Öffnung in der Abwehr jeder Veränderung des Bewusstseins der Akteur_innen stecken, es kommt zu einer Bildungsverweigerung. Das gesellschaftliche Selbstbild kommt in der Gegenwart nicht an.
Migration bewegt Selbstbilder
Der Begriff der Migrationsgesellschaft steht zumindest im deutschsprachigen Raum immer noch nicht für etwas Allgemeines, das alle angeht und mit dem alle gemeint sind. Mit dem Signalwort „Migration“ bietet die Bezeichnung “Migrationsgesellschaft“ immer noch die Gelegenheit, nicht über sich selbst, sondern über andere zu sprechen.
Durch Migrationen werden die nationalen Ordnungen der Zugehörigkeit in Bewegung gebracht. Die Abwehr dagegen ist gesellschaftlich ausgeprägt. Der Wunsch an einem abstam-mungsorientierten homogenen Konzept gemeinschaftsbildender Nationalstaatlichkeit festzuhalten, hat sich zumindest in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern nicht erledigt. Doch erst wenn die dominierende Unterscheidung von unhinterfragt Zugehörigen und fremd gemachten Hinzugekommen hinterfragt wird, kann eine „Verschiebung dominanter Zugehörigkeitsordnungen“ (Mecheril 2004, S. 223) in Gang kommen und hat eine „Pädagogik der Mehrfachzugehörigkeit“ (ebd., S. 220) eine Chance, die als politische Pädagogik aufzufassen ist, weil sie konzeptionell die Auseinandersetzung um die Bürgerrechte provoziert. Sowohl die Kriterien für Staatsangehörigkeiten sind angesichts globaler Migrationsbewegungen neu zu fassen als auch die kulturellen Vorstellungen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit sind zu verändern, um zeitgemäße Bedingungen für die politische Partizipation herzustellen (vgl. Benhabib 2008).
Bildung in globalen Migrationsdynamiken
Den Bildungsinstitutionen fällt die zentrale Rolle zu, auf die aktuellen globalen Verhältnisse einzugehen und Migration sowie Flucht und Asyl im Zusammenhang globaler Not und Ungleichheit als einen bedeutsamen, allgemeinen Bildungsgegenstand zu begreifen. Es stellt sich damit die Frage, wie Möglichkeiten formeller, non-formeller und informeller Bildung zu diesem Thema geschaffen und gestärkt werden können. Hierbei geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen über die globalen, europäischen, deutschen und lokalen Verhältnisse. Sondern es geht vielmehr auch darum, dazu anzuregen, dass die Individuen und sozialen Gruppen sich im Sinne eines Bildungsprozesses mit ihrer spezifisch mehr oder weniger privilegierten Stellung in der Welt auseinander setzen und sich klar darüber werden, wie sie an Strukturen globaler Ungleichheit und Gewalt beteiligt sind. Als ein zentrales Bildungsziel des 21. Jahrhunderts kann vor diesem Hintergrund das Streben nach globaler Solidarität gelten.
Schule und Universität haben für eine migrationsgesellschaftliche Bewusstseinsbildung einzutreten, damit die historischen, ökonomischen, rechtlichen, politischen und sozialen Hintergründe, Zusammenhänge und Folgen von globaler Ungleichheit und Gewalt zum Gegenstand von Erziehung und Bildung werden. Erforderlich ist eine systematische Auseinandersetzung mit struktureller, organisatorischer und interaktiver migrationsgesellschaftlicher Diskriminierung sowie mit den Möglichkeiten antidiskriminierender Praxis in allen Bildungsfeldern und in allen pädagogischen Studiengängen (vgl. www.aufruf-fuer-solidarische-bildung.de ). Das universelle Bedürfnis nach angemessenen Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch die vielfache wechselseitige, praktische Verwiesenheit der Weltbevölkerung aufeinander, verbindet Geflüchtete, Eingewanderte und etablierte Bewohner_innen der relativ privilegierten Zielorte dieser Welt.
Benhabib, Seyla (2008): Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger. Frankfurt/M.
Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen.
Gomolla, Mechtild (2011): Institutionelle Diskriminierung: Rechtliche und politische Hintergründe, For-schungsergebnisse und Interventionsmöglichkeiten im Praxisfeld Schule. In: Ursula Neumann/Jens Schneider (Hrsg.): Schule mit Migrationshintergrund. Münster, S. 181-195.
Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim.
Utlu, Deniz (2011): Migrationshintergrund. Ein metaphernkritischer Kommentar. In: Susan Arndt/Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Münster, S. 445-448.
Yýldýz, Erol (2010):Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe: http://www.uni-klu.ac.at/frieden/downloads/yildiz-artikel-postmigrantisch.pdf
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