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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 41 / April-Juni 2016

Die Macht der Worte
[Sözcüklerin Gücü]



Dr. Phil. Türkan KANBIÇAK
Fritz Bauer Instituts




Klaus J. Bade, Historiker, Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, bietet mit diesem Buch eine Diskursanalyse mit zahlreichen und scharfsinnigen Hintergrundinformationen und –recherchen über die Sarrazin-Debatte und die „vulgärrationalistische ‚Islamkritik‘, die in wechselseitiger Verstärkung durch Sarrazin-Debatte lief“(S.12). Er zeigt, wie die „scheinaufklärerischen antiislamischen Bewegungen“ in kulturrassistischen Vorstellungen und völkischen Selbst- und Fremdbildern gemeinsame Schnittmengen finden (ebd.). Die historiographische Diskusanalyse zielt auf das besonders gefährliche Spannungsfeld zwischen Wortgewalt und Tatgewalt. Der Autor verdeutlicht den Weg und die Verwobenheit von gewalthaltiger ‚Islamkritik‘, weitläufigem Kulturpessimismus, Xenophobie und Islamophobie, ein Syndrom, das in der Mitte der Gesellschaft präsent ist. Dabei zeigt er auch, wie es Personen ergeht, die es wagen, sich mutig diesem Trend entgegen zu stellen.

Bade beschreibt die Paradoxie, dass insbesondere jüngere Menschen ethnische und kulturelle Vielfalt als selbstverständlich akzeptieren, sich aber zugleich gruppenfeindliche kulturrassistische Zivilisationskritiker und „Mahner“ wortgewaltig und schrill zu Wort melden, um vor kultureller „Überfremdung“ zu warnen (vgl. S. 14). Das Ergebnis dieser „paradoxen Spannung“ sei „eine gefährliche Ersatzdebatte anstelle jener überfälligen Diskussion um die neue Identität in der Einwanderungsgesellschaft“ (ebd.). Diese Ersatzdebatte bezeichnet der Autor als „negative Integration: Integration durch partielle Segregation“ im Sinne einer „Selbstvergewisserung der Mehrheit durch die Ausgrenzung einer großen – muslimischen – Minderheit“ (ebd.). Kulturrassistische Debatten über Einwanderer/innen suggerierten Bilder von „gescheiterter Integration“ (S. 27). Dabei konzentriere sich die Integrationsdebatte zunehmend auf die Minderheit der Muslime. Die Integrationsdebatte entwickelte sich damit zur „Islamdebatte“.

Bade mischt sich als Migrationsforscher in diese Debatte ein, auch um zu verdeutlichen, wie Muslime in der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden und wie weit die Projektionsfläche Islam sich bereits in dieser Gesellschaft etabliert hat. Von Schulen bis zu Behörden – dies belegen insbesondere die NSU-Serienmorde und deren zögerliche Aufklärung – reicht die Ethnisierung und „Islamisierung“ sozialer Konflikte. Ferner stellt der Autor fest, dass die medial geführte Diskussion um den Islam sich in zwei getrennten Sektoren wiederfindet: zum einen als sachliche Auseinandersetzung über den Islam als Religion und zum anderen als polarisierende und denunziativ „vulgäraufklärerische“ Islamkritik. Die Islam-Dimension in der Sarrazin-Debatte ordnet er dem Letzteren zu.

Ein ganzes Kapitel widmet Klaus J. Bade dem von ihm als „Agitationskartell“ definierten Personenkreis, in deren Mittelpunkt die selbsternannte Islamkritikerin Necla Kelek steht. Die Galionsfigur Kelek übernimmt in dem Zirkel zwischen Thilo Sarrazin, Hendryk Broder und Ralph Giordano die Rolle der „Insiderin“. Sie schaffe als „Berufungsinstanz“ mit Insider-Wissen die Legitimationsgrundlage der islamophoben Bewegung in Deutschland. Nach Kelek sei der „Islam als solcher zwar in Grenzen modernisierungsfähig, aber eben nicht demokratiefähig, folglich in Deutschland und Europa nicht ‚integrierbar‘ und deshalb gefährlich. Wer dem widerspricht, ist böswillig, naiv oder dumm“ (S. 147). Kelek argumentiere und schreibe oft vereinfachend und verallgemeinernd, auf der Grundlage persönlicher, familiengeschichtlicher Erinnerungen.

Thilo Sarrazin, der frühere Berliner Finanzsenator und spätere Frankfurter Bundesbankvorstand, dessen Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘ ein exorbitanter Bestseller wurde, ist einer der wortgewaltigen Akteure, die Bade zum harten Kern des „Agitationskartells“ zählt. Er durchleuchtet Sarrazins Argumentationskette: die altbekannte Verfallstheorie, verachtende und erniedrigende kulturrassistische Anleihen, die bereits eine längere Tradition im Rahmen der Ausländer-Debatten haben. Dabei basierten Sarrazins Einschätzungen und Erkenntnisse zu Migration, Integration und Islam zum Teil auf „anekdotischer Evidenz“ und „wissenschaftlich gekleideter Meinungspublizistik à la Necla Kelek“ (S. 42).

Um die Wirkung derartiger Diskurse zu verdeutlichen, zitiert Bade treffend den Sozialpsychologen Haci Halil Uslucan, der in Anlehnung an Norbert Elias (‚Etablierte und Außenseiter‘) schreibt: „Die Mehrheitsgesellschaft identifiziert sich mit den besten ihrer Vertreter, die Minderheit wird aber den negativsten Exemplaren ihres kulturellen oder ethnischen Hintergrundes gleichgesetzt. Am Ende wird in jedem Deutschen ein Goethe oder ein Thomas Mann, in jedem Polen aber ein potenzieller Autoknacker, in jedem Türken ein Gewalttäter gesehen“ (S. 46).

Die muslimische Community wurde in der Debatte kaum beachtet, sodass ihr und ihren Sprechern kein Platz für mediale Gegenstellungnahmen blieb. Bade beschreibt, dass Sarrazins Botschaften „nicht nur für die muslimische neue Elite, sondern auch für viele ehemalige ‚Gastarbeiterfamilien‘, die im intergenerativen Prozess von Integration und mühsamem Aufstieg aus prekären Sozialmilieus die Ebenen des kleinen Mittelstands erklommen haben […], vor allem aber die medialen Debatten darüber oft deprimierend“ (S. 108) wirkten. Die kollektive Kränkung, die die Sarrazin-Debatte bei der Gruppe muslimischer Einwander/innen ausgelöst habe, verstärkte in der neuen muslimisch-türkischen Elite die Abwanderungsneigung oder die Tendenz zu einer Art inneren Emigration.

Bade berichtet von dem Aufruf der 60 Migrationsforscher, der am 2. Februar 2006 in der ZEIT veröffentlicht wurde und auf die von Kelek betriebene Kulturalisierung von Sozialproblemen aufmerksam machen wollte. Er zitiert in diesem Zusammenhang den Ethnologen Werner Schiffauer: „Nicht Necla Kelek sollte man angreifen, sondern die deutsche Öffentlichkeit, die nur auf so jemanden wie Kelek gewartet hat, der all das bestätigt, was sie schon immer über Muslime gedacht hat“ (S. 170).

Dieser Diskurs hat wirkungsvolle Spuren bis in der Mitte der Gesellschaft hinterlassen. Bade spricht hier zu Recht von „Denunziation und kommunikativer Kriminalität im Internet“ (S. 232). Deutlich wird, wie sich Wortgewalt und Tatgewalt gegenseitig bestärken, vielleicht sogar bedingen. In diversen Internetportalen, insbesondere in „Poltically Incorrect“ (PI), finden sich Keleks Argumente wieder und erfreuen sich großer Userzahlen. Auch Hendryk Broder und Ralph Giordano publizieren dort häufig. Eifrig und voller Hass werden von den Usern islamophobe Thesen aufgegriffen und münden mitunter in direkte Bedrohungsaufrufe. Das Portal ist gut vernetzt und straff organisiert. Deutsche Gerichte können kaum etwas gegen solche Portale unternehmen, denn ihr Hauptserver steht meist in den USA und dort gilt ein anderes Medienrecht.

Der antiislamische, antimultikulturelle, antidemokratische christlich-fundamentalistische Terrorist Anders Behring Breivik stellte kurz vor seinen Attentaten sein 1.516 Seiten langes kulturpessimistisches und islamfeindliches Manifest ins Netz. Dabei berief er sich auf seine „Brüder“ in Deutschland, darunter auch auf ‚Politically Incorrect‘. Die Analyse des Breivik-Manifests zeigt die frappierende geistige Nähe zu den „Argumentationslinien z. B. von Kelek, Sarrazin, Broder und Giordano“ (S. 273). Bade warnt vor der Eigendynamik derartiger Diskurse. Wortgewalt könne in Tatgewalt münden. Permanente gruppenbezogen abwertende Debatten könnten als Einladung zur tätlichen Gewalt führen. Auch die schon älteren NSU-Serienmorde fielen in dieses Raster.

Er kritisiert, „dass es hier um ein Wahrnehmungsproblem geht, dass die […] seit vielen Jahren faktisch vorhandene multikulturelle Vielfalt durch eine neue, islamophobe ‚Brille‘ betrachtet wird“ (S. 312). Dieser Einfluss sei äußerst folgenreich im Blick auf politische Entscheidungen und den Alltag der in Deutschland lebenden Muslime. Bade resümiert, dass „die fragwürdige Win-win-Beziehung“ zwischen Sarrazin und seinen Anhängern in der Mehrheitsbevölkerung ein „desintegratives Geschäft zu Lasten Dritter“ gewesen sei; „denn die Zeche für den bestenfalls begrenzten historisch verspäteten Lerneffekt bei der Mehrheitsbevölkerung zahlten die Einwanderer und unter ihnen besonders die Muslime“ (S. 352). Er plädiert für ein Umlernen in der Mehrheitsgesellschaft. Soziale Konflikte müssten als solche erkannt werden, dies hieße ein Ende der kulturalistischen Ersatzdebatten. Dringend geboten seien „eine klare und mutige Selbstbeschreibung von Einwanderungsgesellschaft und Einwanderungsland“ (S. 366) sowie die Entwicklung eines solidarischen „Wir“.