Die Gaste, Ausgabe 8 / Juli-August 2009

Die Verwarenförmigung der Bildung: Folgen der Biopiraterie im Bildungsbereich
(Eðitim Alanýnda Bio-Korsanlýðýn Sonuçlarý:
Eðitimin Metalaþtýrýlmasý
)


Prof. Dr. Armin BERNHARD
(Universität Duisburg-Essen)



Das öffentliche Schulwesen in seinem gegenwärtigen Zuschnitt ist nur in Einzelfällen in der Lage, überhaupt ein Minimum an allgemeiner Bildung zur Verfügung zu stellen, geschweige denn eine emanzipative Subjektwerdung zu fördern. Wenn dies der Fall ist, geschieht dies eher zufällig bzw. trotz der Existenz der Bildungsinstitution. Diese ist darüber hinaus hoch selektiv und besorgt die Aussortierung von Menschen. Die strukturelle Bildungsverweigerung beraubt die Masse der Kinder ihrer Lebenschancen. Kommerzialisierung und Verwarenförmigung von Bildung sind jedoch keine gesellschaftliche Alternative zu einem überkommenen Bildungssystem, sie sind dessen radikalisierte Form, weil sie alle Probleme noch verschärfen werden, die dieses hervorbrachte.

In einem ersten Teil (Die Gaste 6/2009) wurden aktuelle Entwicklungen im bundesdeutschen Bildungswesen skizziert und mit den Begriffen der „Kommerzialisierung“ und „Verwarenförmigung“ von Bildung analysiert. Gleichsam wurden diejenigen Akteurinnen und Akteure vorgestellt, die diese Entwicklung hin zu einer Verwarenförmigung von Bildung vorantreiben: die Unternehmensberatung McKinsey & Company, die Bertelsmanns-Stiftung als think tank eines der größten Medienkonzerne der Welt, des Bertelsmanns-Konzerns, die vom Unternehmensverband Gesamtmetall ins Leben gerufene Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die OECD und die WTO. Die Begründungen dieser Organisationen für eine Kommerzialisierung von Bildung basieren auf einer grundlegenden Veränderung im Verständnis von Bildung: Dieses wird funktionalistisch angelegt, so dass Bildung nur noch mit Blick auf ihren Beitrag zur Umwandlung von Humanressourcen in Humankapital ins Blickfeld der „Bildungsreform“ rückt. Unverhohlen heißt es schon in den einleitenden Bemerkungen zur ersten PISA-Studie, dass es in dieser Untersuchung um einen „funktionalen“ Bildungsbegriff gehe und nicht um Bildung in einem umfassenden und tiefgreifenden Verständnis. Im Folgenden sollen die wahrscheinlichen Auswirkungen „hochgerechnet“ werden, die die auf einem funktionalen Bildungsbegriff aufruhenden Bildungsplanungen generieren werden: Welche Resultate wird eine Bildungsplanung erzeugen, in der die zeitökonomisch beschleunigte, rasche Herstellung von verwertbaren Humankompetenzen die zentrale Maxime darstellt?

Mindestens sieben Punkte sind in diese „Rechnung“ einzubeziehen:

1. Die ohnehin schon bestehende soziale Ungleichheit wird verschärft, indem genau denjenigen Bildung verweigert wird, die ihrer so dringend bedürfen. Die so genannten „bildungsfernen“ Sozialgruppen, im verharmlosenden Neudeutsch nicht mehr Unterschicht, sondern Prekariat genannt, werden in dem Maße von der höheren Bildung segregiert, wie freie Schulwahl, Konkurrenz zwischen Schulen, Rückgriff auf Sponsoring installiert werden. Die Kommerzialisierung der Bildung wird die ohnehin schon skandalöse Ungleichheit noch verschärfen und insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus unterprivilegierten sozialen Schichten massiv benachteiligen. Die Muster schichtenspezifischer Sozialisation sind seit Jahrzehnten bekannt: Unterschiedliche klassen- und schichtenspezifische Muster der Sozialisation in den Feldern der Sprache, der Intelligenzentwicklung, der Motivation, der Lerneinstellungen, der Erziehungsstile usw. programmieren die Bildungs- und damit die Lebenschancen vor. Diese Muster könnten nur durch massive gesellschaftspolitische Eingriffe und pädagogische Maßnahmen dergestalt verändert werden, dass sie gerechtere Ausgangsbedingungen für alle Kinder herstellen. Wer aber Bildung dem „freien Markt“ ausliefert, befestigt diese Muster auf Dauer, weil keine gesellschaftliche und pädagogische Gegenwirkung mehr erfolgen kann. Die, die unten sind, werden unten gehalten, die, die oben sind, werden durch eine massive Umverteilung von unten nach oben noch stärker protegiert. Die Eliteförderung wird diesen Effekt noch verstärken. Die Folge ist jetzt schon eine Spaltung der Gesellschaft, die Desintegration nach sich ziehen wird. Aber auch die systematische Ausgrenzung von Menschengruppen kostet Geld.

2. Die Vielfalt der kindlichen Subjektvermögen wird gravierend eingeschränkt. All diejenigen Momente, die sich aus der Position der Erwachsenen als zweckfreie Tätigkeiten im Leben von Kindern ausmachen lassen, werden von selbsternannten Bildungsreformerinnen und -reformern als nutzlos eingestuft. In einer Lebensphase - so die bildungsökonomische Argumentation -, in der eine ungeheure Offenheit der menschlichen Entwicklung gegeben ist, wird grundlegendes Humankapital dadurch verschleudert, dass wir Kinder spielen lassen und ihre Entwicklung nicht harter Bildungsarbeit unterwerfen. Gerade deshalb sollen in Zukunft auch die informellen Lernprozesse von Kindern stärker in die Humankapitalbildung einbezogen werden. Was aber bedeutet die schnelle Wissensproduktion für das Bewusstsein, für das In-der-Welt-Sein, für die Lebenseinstellung der Heranwachsenden, wenn ihnen diese zweckfreien Tätigkeiten verwehrt werden? Welcher gesellschaftliche und individuelle Verlust ist zu erwarten, wenn Phantasie, Imagination, Tagträume, Spiel, experimentierender Erfahrung von Kindern in der Bildung immer weiter ausgedünnt werden? Welche Entzivilisierungstendenzen werden in der Sozialisation durch die Blockierung der in diesen Formen zum Ausdruck kommenden Subjektvermögen der menschlichen Wesenskräfte freigesetzt?

3. Die zeitliche Logik kindlicher Bildungsprozesse wird unterbunden: Arbeitgeber und eta-blierte Politik versuchen, den kindlichen Bildungsprozess nach wirtschaftlichen Regeln und zeitökonomischen Aspekten zu gestalten. Die immensen zeitlichen Aufwendungen für Bildung – so lautet die Argumentation - unterlaufen die internationale Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschland. Empfohlen werden daher eine drastische Verkürzung der Bildungszeit und der Abbau sog. „Kunstpausen“ in der Bildung. In dieser „Wirtschaftsphilosophie“ wird Bildung mit einer möglichst raschen Vermittlung von Wissen, Informationen und Kompetenzen verwechselt. Alle Prozesse, in denen sich Kinder auf produktive, auf kreative Weise und oftmals auf Umwegen mit Problemen und deren Lösungen beschäftigen, gelten als pure Zeitverschwendung. Dabei bleibt die Logik kindlicher Bildungsprozesse völlig auf der Strecke: Eine Logik, die sich eben nicht nach ökonomischer Effizienz bemisst, sondern von der Eigensinnigkeit von Kindern her bestimmt wird. Wer diese Logik kindlicher Bildungsprozesse zerstört, zerstört zugleich die Grundlage für eine sich entfaltende Persönlichkeit. Bildung ist auf einen offenen Zeitablauf hin angelegt, wenn sie produktiv werden soll. „Zeit aber steht für Liebe“, schreibt Max Horkheimer, „der Sache, der ich Zeit schenke, schenke ich Liebe; die Gewalt ist rasch.“ In einer ökonomisch gerafften Zeitstruktur für Bildungsprozesse kann sich weder die Struktur des Inhaltes erschließen, noch kann das Kind sich gegenüber dem Inhalt öffnen. Beiden, dem Kind wie dem Bildungsinhalt wird Gewalt angetan. Bildung wird selbst zu einem Moment von Gewalt.

4. Die Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzipien im frühen Kindes- und Grundschulalter werden erheblich verschärft. Kinder werden zu Einstellungen und Haltungen angeleitet, die entzivilisierende Elemente für das gesellschaftliche Zusammenleben produzieren: Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität, Kampf ums Dasein sind schon heute gewaltproduzierende Verhaltensweisen in Kindergärten und Schulen, Umso merkwürdiger muten in diesem Zusammenhang die Vorschläge Dieter Lenzens an: Der Erziehungswissenschaftler und Präsident der FU Berlin, Mitglied der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, fordert für die Grundschule ein Ende der „Kuschelpädagogik“ und eine systematische Unterwerfung der Grundschulkinder unter harte Qualifikationsbedingungen, unter „Arbeit“, „ökonomischen Druck“ und „soziale Erwartungen“. Mit „sozialen Erwartungen“ meint er dabei offensichtlich nicht das Erlernen der sozialen Regeln menschlicher Kooperation. Es geht ihm vielmehr darum, Menschen hervorzubringen, die „nicht eine der vielen Opfernischen bewohnen…wollen, die unsere Gesellschaft bietet“. Wenn Schule aber diesen Druck zur Selektion noch verschärft, bringt sie jenes egozentrische Denken hervor, das in der Gesellschaft ohnehin schon weit verbreitet ist und deren zivilisatorischen Grundlagen zerstört.

5. Der Charakter einer allgemeinen Bildung wird zerstört, denn eine warenförmige Bildung eliminiert all derjenigen Momente, die für einen gelingenden Bildungsprozess die unhintergehbaren Bedingungen sind: Muße, Zeit, Hingabe, Gelassenheit und Liebe, grundlegende Elemente, die den Menschen zur Bildung erst befähigen. Die Restbestände eines humanistischen Bildungsverständnisses werden kurzfristigen Profitinteressen geopfert. Statt umfassender Menschenbildung im Sinne Humboldts ist gegenwärtig „allseitige Verfügbarkeit“ des Menschen (Oskar Negt) angesagt. Schule hätte aber zunächst die Aufgabe, eine allgemeine Bildung zu vermitteln, die Kinder einmal befähigt, selbstbestimmt handeln und aktiv die eigenen Lebensverhältnisse gestalten zu können. Dies war die Vorstellung Wilhelm von Humboldts: Durch eine qualitativ hoch entwickelte Bildung für die Kinder aller Gesellschaftsschichten sollte eine klassen- und schichtenübergreifende Bildung für alle realisiert werden.

Wer dieses Ziel der Ermöglichung einer allgemeinen Bildung für alle, die keineswegs nur als angehäuftes Wissen mißzuverstehen ist, aus den gesellschaftspolitischen Perspektiven verdrängt, Humboldt für tot erklärt, verabschiedet sich nicht nur vom Gedanken der Mündigkeit, sondern stellt auch die Grundlagen zivilen Zusammenlebens in Frage.

6. Der demokratische Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule wird ad absurdum geführt: Während einerseits die Ökonomisierung und zeitliche Beschleunigung von Bildung betrieben werden, soll Schule andererseits immer mehr Aufgaben übernehmen, die ihren klassischen Bildungsauftrag übersteigen: Sie soll die Defizite der familialen Erziehung kompensieren, sie soll den veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern Rechnung tragen, sie soll interkulturelles Lernen ermöglichen und zum Abbau von Gewaltpotentialen beitragen. Schule soll den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden und alternative Unterrichtsmethoden erproben. Die pädagogischen Anforderungen an Schule steigen also, während zugleich ihre Aufgaben auf Humankapitalbildung beschränkt werden. Die Berücksichtigung der Veränderungen in der kindlichen Lebenswelt wäre die Grundlage dafür, dass sich die psychischen und psychosozialen Probleme von Kindern nicht potenzieren, sondern dass sie bearbeitet werden können. Zu einer humanen Bildung aber ist Schule aus strukturellen Gründen nicht in der Lage, der Ökonomisierungsdruck setzt ihre pädagogischen Aufgaben zunehmend außer Kraft.

7. Die Verwarenförmigung von Bildung ist volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Denn es wird lediglich danach gefragt, wie möglichst rasch rentables Arbeitsvermögen, also: Humankapital, hergestellt werden kann. Eine blinde Produktivitätsgläubigkeit ignoriert die ökonomischen Kosten, die in Zukunft auf die Gesellschaft zurückfallen werden: Kosten, verursacht durch die Ausgrenzung von Kindern aus problematischen Lebensverhältnissen, Kosten für erforderliche außerschulische Lern- und Hausaufgabenhilfen, die von Sozialhilfe- bzw. Jugendhilfeträgern übernommen werden müssen, Kosten, die durch die Phänomene des „Schulversagens“ bzw. des Schulabbruchs anfallen, Kosten, die durch Vandalismus und Gewalt an Schulen erzeugt werden, Kosten, die infolge fehlender Bildungsabschlüsse und durch Aufwendungen spezieller berufsbildender Maßnahmen („Bildungswarteschleifen“) hervorgerufen werden usw..

Die hier skizzierte Entwicklung ist allerdings kein „Schicksal“. Der neoliberale Slogan „There is no alternative!“ will uns nur glauben machen, dass es sich beim neoliberalen „Bildungsregime“ (Pongratz) um eine historische Notwendigkeit handelt. Es gibt Möglichkeiten, Bildungsalternativen in eine andere Richtung aufzubauen, jenseits eines privaten Bildungsmarktes und jenseits paternalistischer staatlicher Bürokratie. Ein Zurück zu einem staatlich organisierten dreigliedrigen Schulsystem, das lediglich die Sozialstruktur reproduziert, ist nicht wünschenswert: Das öffentliche Schulwesen in seinem gegenwärtigen Zuschnitt ist nur in Einzelfällen in der Lage, überhaupt ein Minimum an allgemeiner Bildung zur Verfügung zu stellen, geschweige denn eine emanzipative Subjektwerdung zu fördern. Wenn dies der Fall ist, geschieht dies eher zufällig bzw. trotz der Existenz der Bildungsinstitution. Diese ist darüber hinaus hoch selektiv und besorgt die Aussortierung von Menschen. Die strukturelle Bildungsverweigerung beraubt die Masse der Kinder ihrer Lebenschancen. Kommerzialisierung und Verwarenförmigung von Bildung sind jedoch keine gesellschaftliche Alternative zu einem überkommenen Bildungssystem, sie sind dessen radikalisierte Form, weil sie alle Probleme noch verschärfen werden, die dieses hervorbrachte. Es geht also darum, eigene Alternativen zu entwickeln, die jenseits der bürgerlichen Schule und jenseits neoliberaler Moderniserungsstrategien anzusiedeln sind. Es geht um die Rückeroberung verweigerter Bildung, es geht um die Neufassung eines Begriffs von Bildung, der die Bezeichnung „Menschenbildung“ verdient. Es geht um die Schaffung eines Entwicklungsraumes Schule für alle Kinder, in dem den Zwängen zur Selektion, zur Konkurrenz, zur Vereinseitigung konsequent entgegengesteuert wird. Diese Ziele können nur gegen die Tendenz hin zu einer totalen Marktgesellschaft realisiert werden. Sie müssen korrespondieren mit einer Rückbettung des Marktes in die Gesellschaft, seine Unterwerfung unter eine gesellschaftliche demokratische Kontrolle.