Die Gaste, Ausgabe 9 / September-November 2009

Drinnen oder Draußen?
Anmerkungen zur Diskussion um Integration und Inklusion im Feld der Heil- und Sonderpädagogik
Ýçeride mi? Dýþarýda mý?


Prof. Dr. Willehad LANWER
(Evangelische Fachhochschule Darmstadt)



Prof. Dr. Willehad LANWER

Einführende Orientierung


    Derzeit wird in der Heil- und Sonderpädagogik eine Diskussion über die Kategorien Integration und Inklusion geführt. Diese Auseinandersetzung ist mehr als nur ein Spiel um die Begriffe, sondern es geht um die grundsätzliche Problematik der Teilhabe und des sozialen Ausschluss, die sich nicht nur auf Personen bezieht, die beeinträchtigt sind und behindert werden, sondern auch auf Kinder und Jugendliche aus erheblich sozioökonomisch benachteiligten Wirklichkeiten und/oder mit Migrationshintergrund. Beispielsweise offenbaren die Ergebnisse der Pisa - Studien, dass Deutschland zu den Ländern zählt, in dem die Aneignung von Bildung außergewöhnlich stark von dem Einkommen und der Bildung der Eltern abhängt. Die Herkunft eines Menschen entscheidet über seine Teilhabe und Ausschluss und das Bildungs- und Erziehungswesen in Deutschland überwindet ersichtlich diese Abhängigkeit nicht. Konkret heißt das: zehn Prozent der Bevölkerung Deutschlands verfügen weder über einen Hauptschulabschluss noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung . Dieser Sachverhalt wird neuerdings als „Bildungsarmut“ bezeichnet und wer davon betroffen ist hat auf dem ohnehin verengten Arbeitsmarkt so gut wie überhaupt keine Chancen. Bildungsarmut wird in der Folge zur sozialen Armut, d.h. wer arm ist, hat von vornherein schlechtere Startbedingungen und wer darüber hinaus nicht in Deutschland geboren oder das Kind von nicht in Deutschland geborenen Eltern ist, schneidet in unserem Bildungssystem noch schlechter ab“ . Für die Erziehung und Bildung ist die Auseinandersetzung um Integration und Inklusion stets eine Frage der Subjektwerdung in oder außerhalb der Gesellschaft, d.h. zwischen Drinnen oder Draußen. Die Diskussion um Integration und Inklusion begründet sich aus dem Widerspruch, dass es in unserer wirtschaftlich, politisch und kulturell hoch entwickelten Gesellschaft Formen der sozialen Ausschließung gibt, die sowohl einem demokratischen Selbstverständnis als auch z.B. formal durch das Grundgesetzt geregelte rechtlichen Gleichstellung aller entgegenstehen. Unter sozialer Ausgrenzung ist die ausgeprägteste Form von sozialer Ungleichheit zu verstehen, die sich subjektiv in der Erfahrung der Zugehörigkeit und sozialen Anerkennung bzw. in dem Gefühl der Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit ausdrücken kann .
    Welche Bedeutung hat nun diese Diskussion für die Heil- und Sonderpädagogik bzw. welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Debatte für ihre pädagogischen Felder? In der Beantwortung dieser Fragen ist es unumgänglich, auf die nunmehr über dreißigjährige Entwicklung der Integration im deutschsprachigen Raum einzugehen, ohne deren Bezug nicht deutlich wird, worum es in dieser Auseinandersetzung um Integration und Inklusion geht. Aspekte der Begründung von Integration in ihrer geschichtlichen Entwicklung
    Grundsätzlich ist die Entwicklung der Integration im Zusammenhang mit der Klärung des Umganges mit dem „Anderssein“, d.h. mit der menschlichen Ungleichheit und Unterschiedlichkeit, zu begreifen. Integration ist von ihrem Gegensatz, d.h. von dem sozialen Ausschluss eines Menschen aufgrund seines „Anderseins“ her zu bestimmen. Die Forderung nach Integration erfolgte nicht an sich, sondern im untrennbaren Zusammenhang mit Teilhabe und Ausschluss. Wolfgang JANTZEN bringt diese Beziehung wie folgt auf den Punkt: „Wer von Integration redet, darf vom Ausschluß nicht schweigen. Und wer vom Ausschluß schweigt, redet nicht von Integration“ .
    Der Widerspruch zwischen Teilhabe und Ausschluss in den Feldern der Pädagogik war der Ausgangspunkt, von dem aus im deutschsprachigen Raum vor ca. 30 Jahren Integration gefordert wurde. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auf die von Georg FEUSER in den 70iger und 80iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte Integrationskonzeption. Die Konzeption von FEUSER bezieht alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen unabhängig von der Schwere ihrer Beeinträchtigung mit ein. Sie wurde Anfang der 80er Jahre in Bremen sowohl im vorschulischen und als auch im schulischen Bereich praktisch umgesetzt . Integration nach FEUSER meint den Erhalt und die Wiederherstellung gemeinsamer Lebens- und Lernumfelder behinderter und nicht behinderter Menschen, von Menschen mit verschiedener Sprache, Religion und Kultur, um der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten aller willen. Sie entspricht damit einem reformpädagogischen Ansatz, der die Prozesse der Be- und Aussonderung überwindet, indem ein Lernen und Leben in allen Lebens- und Lernbreichen ermöglicht wird, deren Vielfalt nicht nur durch die Beeinträchtigung und unterschiedlichen Entwicklungsniveaus Einzelner gekennzeichnet ist, sondern ebenso auch durch deren andere Sprache, Religion, Nationalität und Kultur. Integration ist die Überwindung der Be- und Aussonderung von Menschen aufgrund ihres „Andersseins“, innerhalb dessen es keine Unterscheidung zwischen integrationsfähigen und –unfähigen Personen gibt, sondern nur eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die aufgrund des Vorenthaltens von materiellen und personellen Unterstützungen, bestimmte Personen, die anders sind, ausschließt. In dem Verständnis von FEUSER bezieht sich also die Notwendigkeit (im eigentlichen Sinne des Wortes: die Not zu wenden) für die Integration damit nicht nur auf die Felder der Heil- und Sonderpädagogik, sondern auch auf die so genannten Regelpädagogik.
    Neben diesem Ansatz der Integration, der im deutschsprachigen Raum den weitestgehenden darstellt, haben sich im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte verschiedene andere Integrationsbemühungen entwickelt . Insgesamt ist festzuhalten, dass mit dem Integrationsbegriff heute ein sehr heterogenes Feld an theoretischen Auffassungen und praktischen Realisierungen verknüpft wird. Die Handlungsfelder der Integration zeigen sich derzeit sowohl in ihren theoretischen Auslegungen als auch in ihren praktischen Umsetzungen als sehr uneinheitlich. Aus diesem Grunde kann die Integration in den Feldern der Pädagogik keinesfalls als verwirklicht bewertet werden, aber ebenso wenig ist sie als gescheitert zu betrachten, denn die Integration an sich gab es in den vergangenen 30 Jahre nicht. Das heißt, es gab und gibt ein sehr uneinheitliches Feld an theoretischen Auffassungen und praktischen Verwirklichungen der verschiedenen Integrationsbemühungen. Die Unterschiede zeigen sich z.B. im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung und der praktischen Realisierung der integrativen Prozesse, die über die Formulierung von Position und Gegenposition hinaus nicht in einen klärenden Diskurs münden. Diese Unterschiede in der Begründung, Herleitung und Umsetzung der Integration bildet den Rahmen, vor dessen Hintergrund die Diskussion um Inklusion ansetzt.

Inklusion als Weiterentwicklung der Integration?


    In der derzeitigen Diskussion wird gefordert den Integrationsbegriff durch den Inklusionsbegriff zu ersetzen. Unter anderem HINZ führt diesbezüglich als Begründung an, dass die vor ca. 30 Jahren begonnenen Bemühungen um Integration noch nicht oder nicht mehr den Gegenentwurf zu einer aussondernden Praxis darstellen und sich auf die Menschen beschränken, die beeinträchtigt sind und behindert werden. Ähnlich argumentiert THEUNISSEN, der die Inklusion als Antwort auf die stagnierende Integrationsentwicklung bewertet und Inklusion „vitalisiert“ seines Erachtens als Antrieb die inflationäre Nutzung des Integrationsbegriffes. SANDER verbindet mit der Inklusion eine „optimierte und erweiterte Integration“.
    Inklusion ist, so Irmtraud SCHNELL und EIBECK, „die konsequente Weiterentwicklung von Integration. Während der Begriff `Integration´ nahe legt, darunter das Hereinnehmen eines Kindes in ein bestehendes System zu verstehen, ohne dabei das System substantiell zu verändern, geht Inklusion davon aus, dass Recht aller Kinder auf gemeinsame Bildung und Erziehung nur durch einen umfassenden Reformprozess zu realisieren ist“ . Diese Definition von Inklusion bildet das ab, was FEUSER bereits vor 30 Jahren mit Integration forderte, aber bis heute noch nicht realisiert wurde. Insofern stellt sich grundsätzlich die Frage, was unterscheidet die Inklusion von der Integration und was stellt ihre Weiterentwicklung im Verhältnis zur Integration dar? FEUSER bewertet diese Diskussion als einen „modernistischen Anglizismus“, der außerordentlich artefaktisch ist und kritisiert sie wie folgt: „Zu meinen, Integration stehe dafür, Behinderte in ein bestehendes, gegliedertes System einzupassen oder dieses mehr oder weniger passend zu machen, was folglich mehr oder weniger eine Teilhabe ermöglicht, und Inklusion stehe für die `wahre´, `eigentliche´ oder `richtige´ Integration, die nicht vom System, sondern vom Kind und seinem individuellen Sosein her denke, wird der Geschichte der Integration im deutschsprachigen Raum nicht gerecht“ .

Begriffe als Wegweiser für das pädagogische Handeln


    Pädagogik ist eine praktische Wissenschaft. Sie ist auf die unterschiedlichen Felder der Pädagogik ausgerichtet und aus diesem Grunde in besonderem Maße auf Theorie und in der Folge auf Begriffe angewiesen. Kategorien bilden nicht nur den Hintergrund für die Reflektion der erzieherischen Tätigkeiten, sondern haben auch eine wegweisende Funktion im Hinblick auf das erzieherische Handeln.
    Integratives pädagogisches Handeln im Elementarbereich verlangt vor dem Hintergrund der geschilderten gesellschaftlichen Schlüsselprobleme, d.h. in Orientierung auf die Überwindung der Be- und Aussonderung und der Herstellung von Teilhabe für alle Kinder, wegweisende Vorstellungen und damit orientierende Begriffe. Ohne Konzepte und Kategorien ist in der Integration nicht der Weg zu finden, der im pädagogischen und erzieherischen Handeln zu beschreiten ist, d.h. ohne Theorien und Kategorien besteht die Gefahr des Abgleitens vom Weg und des sich Verirrens.
    Die Chancengleichheit im Elementarbereich der Bildung und Erziehung für alle Kinder, unabhängig von z.B. ihren individuellen Merkmalen und/oder ihrer Herkunft, ist nur über eine radikale Reform zu verwirklichen. Eine Voraussetzung dafür ist die systematische Analyse des Widerspruches zwischen Teilhabe und Ausschluss, so dass die Prozesse der Be- und Aussonderung erkannt und überwunden werden. Wenn die Prozesse, die zuvor den Ausschluss bewirkt haben nicht überwunden werden, besteht die Gefahr ihrer Erneuerung, d.h. es ist keine Reform sondern eine Restauration. Unverzichtbar sind diesbezüglich die gesellschaftlichen, bildungs- und sozialpolitischen Dimensionen mit einzubeziehen. Diese bilden Hintergrund für Integrations- und Ausgrenzungsprozesse und zeigen die Räume für die pädagogischen Handlungsfelder auf.
    Mit anderen Worten: Wenn nicht zu erkennen ist, was unter Integration und Inklusion verstanden wird, wird auch nicht mehr deutlich, wie in dem Feld der Pädagogik Integration und Inklusion zu realisieren ist. In ihrer Unbestimmtheit verlieren die Begriffe ihre wegweisende Bedeutung für das praktische pädagogische Handeln.
    Um also Ausschluss zu verhindern und Teilhabe zu ermöglichen bedarf es zunächst der umfassenden Klärung, was überhaupt unter Integration verstanden wird und welche erzieherischen Anforderungen sich daraus für die Organisation von Lernfeldern und der Strukturierung von Lernprozessen ergeben. Erst auf der Basis der Integration, d.h. der gleichwertigen und gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme an einer gemeinsamen, nicht ausgrenzenden und nicht separierenden Kultur, ist dann in einem nächsten Schritt zu klären, wie die Inklusion, d.h. eine am Gemeinwesen orientierte Lebenskultur für alle, zu verwirklichen ist.
   



    Dipnotlar:
    1
Vgl. BELWE, Katharina: Editorial. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21-22/2003, S. 3
    2
Ebd. S. 3
    3
Vgl. ebd. S. 3
    4
Vgl. HERKOMMER, S.: Ausgrenzung und Ungleichheit. Thesen zum neuen Charakter unserer Klassengesellschaft. In: ANHORN, R. / BETTTINGER, F. (Hrsg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 57-76
    5
JANTZEN, W.: Das Ganze muß verändert werden. Zum Verhältnis von Behinderung, Ethik und Gewalt. Berlin: Edition Marhold 1993, S. 67
    6
Vgl. FEUSER, G.: Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. In: Behindertenpädagogik 28 (1989) 1, S. 4-48; ders.: Behinderte Kinder und Jugendliche. Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995; ders.: Erkennen und Handeln. Integration – eine condition sine qua non humaner menschlicher Existenz. In: Behindertenpädagogik, 43. Jg. Heft 2/2004, S. 115 - 135
    7
Vgl. FEUSER, G.: Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kindertagesheim. Ein Zwischenbericht. Bremen 1984; FEUSER/WEHRMANN, Ilse: Informationen zur gemeinsamen Erziehung und Bildung behinderter und nichtbehinderter Kinder (Integration) in Kindergarten, Kindertagesheim und Schule. Bremen: Selbstverlag Diak. Werk Bremen e.V. 1985; FEUSER/MEYER, Heike: Integrativer Unterricht in der Grundschule. Ein Zwischenbericht. Solms-Oberbiel: Jarick 1987
    8
Vgl. u.a. EBERWEIN, H./KNAUER, Sabine (Hrsg.): Integrationspädagogik. Weinheim: Beltz Verlag 2002 (6. Aufl.);
    9
Vgl. HINZ, A.: Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 9/2002, S. 354 - 361
    10
THEUNISSEN, G.: Inklusion - Schlagwort oder zukunftsweisende Perspektive, in: Ders.; SCHIRBORT, Kerstin (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Zeitgemäße Wohnformen - Soziale Netze - Unterstützungsangebote, Stuttgart, 2006 S. 22
    11
SANDER, A.: Inklusive Pädagogik verwirklichen – Zur Begründung des Themas. In: Irmtraud SCHNELL/ Alfred SANDER (Hrsg.): Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn/Obb: Klinkhardt, 2004 S. 12
    12
SCHNELL. Irmtraud / EIBECK, B.: Vorwort. In: BOOTH, T./AINSCOW, M./KINGSTON, Denise: Index für Inklusion. Frankfurt/M.: GEW 2006, S. 5
    13
FEUSER, G.: Qualitätskriterien inklusiver Bildung. In: FEYERER/PRAMMER (Hrsg.): Qualität und Integration. Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes in Österreich. Band 16. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner 2004, S. 30f