Die Gaste, SAYI: 9 / Eylül-Kasým 2009

Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an Förderschulen für Lernhilfe
Öðrenim Desteði Ýçin Förderschulelerde Göç KökenliÇocuklarýn ve Gençlerin Durumu


Dipl. Päd. Mark SKRIPULETZ
Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Heil- und Sonderpädagogik




    Ungleichheitsdebatten im Bildungssystem haben in Deutschland eine lange Tradition und verdienen angesichts der individuellen Folgen von Bildungsarmut für die soziale und berufliche Position weiter große Aufmerksamkeit. Als ein wesentliches Ziel der bildungspolitischen Maßnahmen der 70er Jahre galt die Ausschöpfung der „stillen Begabungsreserve“ in Form des „Katholischen Arbeitermädchen vom Lande“. Obwohl Schulstatistiken schon seit längerem darauf verweisen, findet spätestens seit dem Erscheinen der ersten PISA-Studie im Herbst 2001 die notwendige Überarbeitung der Peisert`schen Kunstfigur um ein „neues“ Disparitätsmerkmal.
    Die Blicke des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses richten sich zunehmend auf die Leistungsdefizite von Schülern mit Migrationshintergrund. Der PISA-Datensatz lässt befürchten, dass ein Großteil der Migrantenkinder den Annforderungen an die Wissensgesellschaft nicht gerecht wird. Nahezu die Hälfte der Schülerschaft mit zwei zugewanderten Elternteilen verfügt über so schwach ausgebildete Lesekompetenzen, dass sie als mögliche Kandidaten für Lernbehindertenschulen gelten können. Sie gehören zur Gruppe der sogenannten „Risikoschüler“ (Kompetenzstufe I und niedriger), was nach der PISA-Umrechnungspraxis mit einem Rückstand von mindestens zwei Schuljahren gleichgesetzt werden kann, wodurch ein zentrales Kriterium - neben dem Intelligenzwert - für die Diagnose „Lernbehinderung“ gegeben wäre.
    Abgesehen vom erreichten Kompetenzniveau gilt die Bildungsbeteiligung im hierarchisch gegliederten Schulsystem als weiterer bedeutsamer Indikator für Chancengerechtigkeit. Schüler mit und ohne Migrationshintergrund sind in den allgemeinbildenden Schulen unterschiedlich stark verteilt. Dabei gilt die einfache Faustformel: Je niedriger die Schulform, desto höher der Migrantenanteil. Dem Geschehen im Bildungskeller sollte eine besondere Aufmerksamkeit zu Teil kommen. In keinem anderen Schultyp lässt sich so eine markante Konzentration an Migrantenkindern wie in Förderschulen für Lernhilfe feststellen.
    Im gut ausdifferenzierten Förderschulwesen stellen Lernbehinderte bundesweit die mit Abstand größte Gruppe unter den Förderschülern dar. Laut KMK-Statistik besuchten im Jahr 2006 5.8% aller Kinder und Jugendlichen eine Förderschule, wovon fast die Hälfte als lernbehindert eingestuft wird. Gleichzeitig unterliegt die Förderschulbesucherquote starken Schwankungen zwischen den einzelnen Bundesländern. Der prozentuale Anteil der Lernhilfeschüler an der Gesamtschülerzahl variierte im oben genannten Jahr zwischen 1% (Bayern) und weit über 5% (Mecklenburg-Vorpommern). Der Förderschulüberweisung haftet trotz des Einsatzes einer umfangreichen und gefühlten objektiven Testdiagnostik nicht nur ein fader Beigeschmack an Willkür, es lassen sich zahlreiche weitere Befunde aufzählen, die die Existenzberichtigung in Frage stellen. Das Hauptargument, wonach nur diese Institution auf die speziellen Bedürfnisse dieser Schüler eingehen könne, lässt sich empirisch entkräften. Ungeachtet günstigerer materieller und personeller Ressourcen finden keine Leistungszuwachse statt und nur ungefähr jeder fünfte Schüler verlässt die Lernhilfeschule mit einem Hauptschulabschluss. Das Ausbleiben leistungsfördernder Effekte geht stattdessen mit einer Stigmatisierung der Schülerschaft einher. Mobilität zwischen dem Regel- und Förderschulbereich kennt nur eine Richtung: nach unten. Der Selektionsakt findet hier nicht nur sein Ende, vielmehr ist die Überweisung kaum mehr revidierbar. Je nach Quelle schwankt die Rückbeschulung zwischen einem und vier Prozent.
    Einvernehmen besteht darin, dass soziokulturelle Lern- und Lebensbedingungen für die Genese und Ätiologie von Lernbehinderung heranzuziehen sind. Mehrheitlich wachsen die Schüler in einem entwicklungshemmenden familiären Umfeld auf. Die Lernhilfeschule gilt als die „Schule der Armen, der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger“. Wenngleich das Zitat von Hans Wocken die Sozialstruktur dieser Schulform treffend beschreibt, so weist es doch auf einen gewissen Mangel, denn Unerwähnt bleibt der Migrationshintergrund als weiterer Risikofaktor.
    Der Förderschulbesuch von ausländischen Schülern soll im Folgenden am Beispiel des Bundeslandes Hessen dargestellt werden, da hierfür aktuelle und differenzierte Daten vom Hessischen Landesamt für Statistik zur Verfügung stehen. Nach eigener Berechnung wurde bei 4% aller hessischen Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit eine sonderpädagogische Förderung mit dem Schwerpunkt Lernen diagnostiziert. Das Pendant dazu bildet der Prozentsatz der deutschen Schüler mit 1.5% (Schuljahr 2008/09). Der „Relative Risiko-Index“ (RRI) von 2.7 besagt demnach, dass ausländische Jugendliche annährend dreimal so häufig auf Lernhilfeschulen überwiesen werden wie ihre einheimischen Schulkameraden. Auf Schulebene rekrutiert sich die Schülerschaft zu 27% aus ausländischen Kindern und Jugendlichen. Erwähnenswert ist hierbei, dass deutsche Schüler mit steigender Einwohnerzahl so extrem marginalisiert werden, dass die Lernhilfeschule zumindest in den hessischen Großstädten wie Frankfurt oder Offenbach (jeweils 50% ausländische Schüler) als eine Migranteninstitution bezeichnet werden kann.
    Über diesen allgemeinen Vergleich hinaus ist bei der Analyse der ausländischen Schülerschaft insbesondere die Frage nach den unterschiedlichen Nationalitäten informativ. Den Daten nach dominieren zahlenmäßig italienische und türkische Schüler sowie Kinder und Jugendliche aus dem ehemaligen Staatsgebiet Jugoslawien. Diese drei Gruppen machen die Hälfte der ausländischen Lernhilfeschülerschaft in Hessen aus. Hierzu passt auch, dass diese Schüler, entsprechend ihres jeweiligen Anteils in der Bevölkerung und gemäß der oben genannten Reihenfolge, mit Prozentsätzen von 5.5%, 4.5% und 3% häufiger auf Lernhilfeschulen überwiesen werden.
    Die amtlichen Daten weisen jedoch einen großen Schönheitsfehler auf: Im Gegensatz zu Schulleistungsstudien wie PISA oder IGLU wird nicht die Migrationsgeschichte beleuchtet, sondern nur nach der Staatsangehörigkeit differenziert, was zwangsweise dazu führt, dass die Anzahl von Migrantenkindern stark unterschätzt wird. Dies gilt vordergründig für deutschstämmige Schüler aus Polen oder den ehemaligen sowjetischen Ländern. Da diese in der Regel die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, sind sie zahlenmäßig so klein, dass sie in der amtlichen Statistik nicht einmal unter den häufigsten Ausländergruppen gelistet werden. Groß angelegte Studien zur Migrationsforschung im Förderschulbereich fehlen bislang.
    Ungeachtet des unterschiedlichen Umgangs mit der Operationalisierung, ist die Überrepräsentation von Migrantenkindern in Förderschulen für Lernhilfe evident und bedarf einer Ursachenklärung. Die Suche nach Gründen führt vorab zur Frage der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Es handelt sich um eine komplexe diagnostische Entscheidung, die mit einer gewöhnlichen Übergangsempfehlung im Regelschulbereich nicht zu vergleichen ist. Voraussetzung ist eine Kombination von unterdurchschnittlicher Intelligenz sowie einem Leistungsrückstand von zwei bis drei Schuljahren in den Kulturtechniken (Lesen, Schreiben und Rechnen). Zwei häufig zitierte Erklärungsansätze sollen kurz aufzeigen, warum Migrantenkinder häufiger ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird:
    Es wurde bereits angedeutet, dass Lernschwierigkeiten mit der sozialen Herkunft in Verbindungen gebracht werden. Migrationshintergrund geht in Deutschland mit einem niedrigen soziokulturellen Status einher. Es liegt nahe, ungünstige Sozialisationsbedingungen in den Migrantenfamilien als mögliche Ursache festzumachen. Die geistige Entwicklung von Kindern ist ein kumulativer Prozess, der von der Bereitstellung ökonomischer, sozialer und kultureller Ressourcen des Elternhauses abhängt. Kinder aus anregungsarmen Familien häufen während der entscheidenden ersten sechs Lebensjahre in sämtlichen Entwicklungsbereichen weitreichende Defizite an. Der sprachlichen Sozialisation von Migrantenkindern kommt dabei eine zentrale Stellung zu. Mangelnde Beherrschung der Unterrichtssprache führt zwangsläufig zu einer schulischen Misserfolgskarriere, die in einer sonderpädagogischen Begutachtung enden kann.
    Der zweite Erklärungsansatz zielt auf das Untersuchungsverfahren und speziell die Intelligenzdiagnostik. Fragwürdig erscheint ein ermittelter IQ-Wert, der auf einem sprachlastigen und kulturnahen Testverfahren beruht. Gerade Migrantenkinder verfügen nicht über die notwendigen schriftsprachlichen Kompetenzen bzw. das kulturelle Vorwissen zur erfolgreichen Bearbeitung der Aufgaben. Die Ergebnisse dieser Tests sind daher wenig geeignet, Aussagen über die kognitiven Fähigkeiten dieser Kinder und Jugendlichen zu machen, geschweige denn, einen sonderpädagogischen Förderbedarf abzuleiten.