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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 30 / Januar-Februar 2014

Schulversagen
[Okul Baþarýsýzlýðý]


Prof. Dr. Frank-Olaf RADTKE





Die Redeweise „Kinder mit Migrationshintergrund“ wird eingesetzt, um die Ergebnisse der schulischen Selektionspraxis, die nach politischen, rechtlichen oder ökonomischen Erwartungen nicht sein sollten, individualisierend erklären und als unabänderlich legitimieren zu können. Verhaltensdeterministische Zuschreibungen werden auch von Schulen benutzt, die sonst für ihre guten Absichten bekannt sind. Schulen und ihre Verwalter, Bildungsforscher und ihre Auftraggeber suchen eine sozial verträgliche Erklärung für ihr objektives Versagen, allen Schülern eine angemessene Dienstleistung anzubieten. Fremd- und Selbstselektion werden ununterscheidbar gemacht.


    1. Diskriminierung als Kampfbegriff
    Schulmißerfolg ist ein Ereignis, das als Ergebnis pädagogischer Bemühungen regelmäßig vorkommt, aber eigentlich nicht sein sollte. Wenn wiederkehrend größere Kohorten einen Bildungsgang vorzeitig abbrechen oder mit Kompetenzeinschränkungen entlassen werden, liegt Schulversagen in doppelter Bedeutung vor – nicht nur die Kinder haben versagt. Wenn davon überproportional häufig bestimmte Gruppen der Bevölkerung, etwa „Arbeiter“, „Mädchen“ oder „Ausländer“ betroffen sind, kann von verbotener Diskriminierung ausgegangen werden.
    Die Ursachen des wiederkehrend beobachteten statistischen Phänomens kollektiver Disparitäten der Bildungsergebnisse sind theoretisch wie politisch heftig umstritten. Ungleichheit des Schulerfolgs kann durch Fremd- oder durch Selbstselektion, oder durch eine Kombination von beiden zustande kommen. Wird der Vorwurf der Diskriminierung erhoben, wird entweder eine unzulässige Beschränkung des Zugangs zu Bildungsangeboten behauptet, die sich als Chancenungleichheit auswirkt, und/oder eine Verletzung des meritokratischen Prinzips, die als Leistungsungerechtigkeit einzustufen wäre.
    Diskriminierung ist ein Ressentiment- und Kampfbegriff, der in der politischen Öffentlichkeit zur Behauptung von Interessen in Verteilungskämpfen eingesetzt wird. Unterstellt wird, Diskriminierung sei das Resultat absichtlichen, d. h. eigennützigen, u. U. böswilligen, zumindest gedankenlosen Handelns. Von moralischen, an einzelne Personen adressierten Vorwürfen zu unterscheiden ist der sozialwissenschaftliche Gebrauch des Begriffs der institutionellen Diskriminierung. Er zielt auf Mechanismen, die unabhängig von persönlichen Motiven oder Einstellungen in Organisationen (Behörden, Betrieben, Schulen) oder Märkten (Arbeit, Wohnen) strukturell wirksam werden. Ungleichbehandlung nach Rasse, Geschlecht und all den anderen im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) genannten Konstrukten wird als ein Phänomen behandelt, das tief in der Geschichte der Institutionen und Organisationen der verschiedenen Funktionssysteme verankert und in ihre Strukturen und Arbeitsweisen eingeschrieben ist. Angenommen wird, daß die Praxis der Unterscheidung entlang der genannten Merkmale als Ergebnis einer historischen Entwicklung institutionalisiert ist, d. h. sie folgt geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln und Gewohnheiten, die das Handeln des Personals instruieren.
   
    2. Umstrittene Kausalitäten
    Oszillierend zwischen Fremd- und Selbstselektion, kann Schulerfolg/-mißerfolg viele Ursachen haben. Ganz vortheoretisch sind vier Aspekte zu unterscheiden: (a) Eigenschaften der Lehrerinnen (Kompetenz, Einstellung, Motivation), (b) Merkmale der Organisation Schule (Ausstattung, Ordnung, Komposition der Schülerschaft), (c) Lehrformen- und -inhalte (Curricula, Didaktik, Methodik) sowie schließlich (d) Eigenschaften der Kinder und ihrer Familien (Begabung, Kapitalien, Aspirationen).
    Betrachtet man die derzeitige Forschungslage, so fällt auf, daß sich die Mehrzahl der Untersuchungen – ausgehend von Humankapital-theorien – mit individuellen Wahlentscheidungen der Eltern beschäftigt, nicht aber mit den institutionellen Aspekten des Selektionsgeschehens. Das Phänomen der Disparitäten wird überwiegend mit familialen Ressourcen, Habitusformen und den Kalkülen der Migranten in Verbindung gebracht und als Resultat von individuellen Entscheidungen der Eltern unter werterwartungstheoretischen Prämissen (rational choice [RC]) untersucht. Ungleichheit wird also letztlich als Effekt der Selbstselektion behandelt.
   
    3. Politisch gelenkte Evidenz
    Wie ist die dominante Ausrichtung zumindest der deutschsprachigen Diskussion auf individuelle Merkmale der (Migranten-)Eltern bzw. ihrer Kinder zu erklären? Die strategische Fokussierung von Forschungslinien, die sich mit politisch relevanten Problemen befassen, kann rekonstruiert werden als das Resultat eines komplexen Zusammenspiels zwischen Politik, Wissenschaft und Medien. In den Konzepten, Theorien und methodischen Ansätzen der Forschung zu Bildungsdisparitäten resonieren (a) der nationale historische Kontext lange ungewollter Einwanderung, (b) die mediale Aufbereitung des Integrationsproblems, die auf Verunsicherung des Publikums reagiert, und (c) die darauf antwortenden Migrations- und Integrationspolitiken, in die sich die Bildungspolitik einzufügen hat.
    In diesem Zusammenspiel entsteht eine epistemic community, ein Netzwerk aus anerkannten Experten, das über die drei Systeme Politik, Wissenschaft und Medien gespannt ist. Es handelt sich um Überzeugungsgemeinschaften, die auf der Basis geteilter Prämissen, im Dreiklang ein einheitliches, nationales Bild der Bildungsproblematik erzeugen, das in allen beteiligten Systemen durchgesetzt und auf diese Weise tendenziell alternativlos wird. In dem Netzwerk formt sich eine Erzählung, die wie ein Mythos durch ständige Wiederholung in allen Medien das Welt- und Problemverständnis der Beteiligten prägt und bekräftigt.
   
    4. „Kinder mit Migrationshintergrund“ als Losungswort der Integrationspolitik
    Eine solche Gesinnungsgemeinschaft, die hegemonial den öffentlichen Diskurs bestimmt, hat sich um das Problem der Bildungsdisparitäten gebildet. Mittlerweile dienen „Kinder mit Migrationshintergrund“ als Losungswort in der Integrationsdebatte, mit dem die eingeweihten Experten sich einander beim Grenzübertritt zwischen den Systemen zu erkennen geben. Die Schwierigkeiten, die bei deren Inklusion in das Bildungssystem erwartet werden, können im öffentlichen Konsens auf kulturbedingte Sozialisations- und Sprachprobleme zugeschrieben werden. Der Zweitspracherwerb wird zu einer Art Gehorsamsübung der Hinzukommenden, die schon vor dem Schuleintritt in Eigeninitiative zu erbringen ist; umgekehrt können andauernde Sprachmängel dann als Integrationsverweigerung gedeutet werden.
    Bei der Erklärung „Kinder mit Migrationshintergrund“ handelt es sich um eine konsequente Individualisierung und Pädagogisierung des Integrationsproblems. Das wandernde Individuum muß sich an die vorgefundenen schulischen Strukturen anzupassen, nicht aber sind die aufnehmenden Schulen in der Einwanderungssituation strukturell auf neue Aufgaben einzurichten oder gar für Mißerfolge verantwortlich zu machen. Das meßtechnische Konstrukt „Kinder mit Migrationshintergrund“ kreiert eine statistische Kunstfigur, in der sich die Furcht vor unkontrollierter Zuwanderung bündelt. Bildlich dargestellt wird sie seit dem 11. September 2001 bevorzugt als „Kopftuchmädchen“. Der symbolische Verweis auf den Islam ist geeignet, Ängste vor Fundamentalismus und Terrorismus, aber auch vor Überfremdung auszulösen. Bezeichnend war die öffentliche Aufregung um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2009), in dem „kleine Kopftuchmädchen“ als Vorzeichen des Niedergangs Deutschlands eine große Rolle spielten.
    Der unerwünschte Zustand mangelnden Schulerfolgs und darauf folgender sozialer Desintegration wird auf ein nationales, ethnisches, sprachliches und religiöses Kollektiv und seine „bis ins dritte Glied“ unverlierbaren Eigenschaften zugerechnet. „Migrationshintergrund“ ist die modernste, wissenschaftlich eingekleidete Formulierung des Gegensatzes von „Wir“ und „Sie“, der die Integrationsdebatte und ihre mediale Repräsentation wie ein roter Faden durchzieht. Aktiviert wird damit eine Wahrnehmungs- oder auch Handlungsweise, eine Welt- bzw. Problemdeutung, welche die Ursachen für unerwünschte Ereignisse und Vorkommnisse, für unerträgliche Verhältnisse und Gegebenheiten, im Wege der Vereinfachung und Vereindeutigung pauschal auf bestimmte Bevölkerungsgruppen (Außenseiter) zurechnet. Die Zuschreibung „Migrationshintergrund“ wirkt wie eine „statistische Diskriminierung“. Dabei wird nicht mehr nur Rasse oder Hautfarbe, sondern die Zugehörigkeit zu einer statistisch identifizierten Gruppe als Determinante für Prognosen des Verhaltens einzelner genommen. Man kann von den tatsächlichen Verhaltensweisen des einzelnen absehen, aber auch von den Bedingungen und strukturellen Voraussetzungen, unter denen die so Bezeichneten ihr Leben bewältigen müssen.
    Die Redeweise „Kinder mit Migrationshintergrund“ wird eingesetzt, um die Ergebnisse der schulischen Selektionspraxis, die nach politischen, rechtlichen oder ökonomischen Erwartungen nicht sein sollten, individualisierend erklären und als unabänderlich legitimieren zu können. Verhaltensdeterministische Zuschreibungen werden auch von Schulen benutzt, die sonst für ihre guten Absichten bekannt sind. Schulen und ihre Verwalter, Bildungsforscher und ihre Auftraggeber suchen eine sozial verträgliche Erklärung für ihr objektives Versagen, allen Schülern eine angemessene Dienstleistung anzubieten. Fremd- und Selbstselektion werden ununterscheidbar gemacht.
    Das gesellschaftliche Umfeld, in dem derartiges Schulversagen, das auf Unterlassung beruht, kontinuierlich möglich ist, ist durch einen Mangel an Kosmopolitismus zu kennzeichnen. Die Grenzen des Nationalstaates bestimmen weiter die Grenzen der Solidarität, so sehr die Globalisierung der Märkte beschworen, die neuen weltumspannenden Kommunikationstechnologien forciert und transnationale Lebensweisen als ein unverkennbares Strukturmerkmal der Weltgesellschaft sich verbreiten.


    Autor: Professor Dr. Frank-Olaf Radtke lehrte bis 2011 Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität.