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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 41 / April-Juni 2016

Die doppelte Radikalisierung
als Zeitenwende?
[Dönüm Noktasý Olarak Çifte Radikalleþme mi?]



Prof. Dr. Dierk BORSTEL
Fachhochschule Dortmund




Politische Zeitenwenden werden oft erst in der Rückschau als solche wahrgenommen. Es gibt gute Gründe, die dafür sprechen, dass wir derzeitig einen radikalen Wandel der politischen Verhältnisse erleben, dessen gesellschaftliche Auswirkungen schwer zu prognostizieren sind. Was sind die Indizien? Die letzten Wahlen belegen den Aufstieg einer neuen Partei mit dem programmatischen Titel „Alternative für Deutschland“ (AfD). Ihr Erfolg wird von vielen Beobachtern vor allem mit der gestiegenen Zuwanderung und damit verbundenen Ängsten erklärt. Eine solche Analyse greift jedoch zu kurz. Zum einen erlebt Deutschland nur eine nachholende Anpassung an europäische Trends. In Frankreich, Österreich, den Niederlanden sind ähnliche Parteien schon lange erfolgreich. Ihre Stärke ist dabei u.a. begründet in der Schwäche der demokratischen Alternativen, in der Entfremdung ganzer gesellschaftlicher Milieus von der demokratischen Idee sowie in oft nur unzureichend aufgearbeiteten und zu selten offen debattierten gesellschaftlichen Konflikten. Zum anderen startete die AfD durchaus erfolgreich als Anti-Euro Partei ohne Betonung von Migrationsfragen. Ihre Stärke erklärt sich gerade auch da heraus, dass das Etikett „rechtsextrem“ ihr nur schwer anzuheften ist. Vielmehr finden sich in ihr drei größere Lager: ein neoliberales, ein konservatives und ein rechtspopulistisches, wobei letzteres zunehmend größer und sichtbarer wird.

Interessant ist der Blick auf die Wählerschichten der AfD. Hier zeigen sich bei Landtagswahlen Gewinne von allen anderen größeren Parteien. Vor allem aber mobilisiert die AfD als größte Gruppe bisherige Nichtwähler, die sich in der Regel selbst als „Mitte der Gesellschaft“ einschätzen. Dieser Faktor ist nun interessant: Forscher der Universität Bielefeld warnen schon seit dem Jahr 2000 vor den Auswirkungen des sogenannten Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Dies meint ein Zusammenspiel unterschiedlicher Abwertungen als schwach empfundener gesellschaftlicher Gruppen wie z. B. Migranten, Langzeitarbeitslose, Behinderte u.a. Das Syndrom eint eine Vorstellung in höher- und minderwertige Gruppen von Menschen. Bekanntes Beispiel ist dafür z. B. der Alltagsrassismus jenseits der rechtsextremen Szene.

Viel spricht dafür, dass es der AfD erfolgreich gelingt, dieses gesellschaftliche Milieu, von denen sich viele von demokratischer Teilhabe verabschiedet haben, mit der Betonung von Ängsten, Krisenszenarien und vermeintlich einfachen Lösungen für komplexe Fragen zu mobilisieren. Wir erleben hiermit somit eine neue Stufe der Radikalisierung in Wahlen wie in Demonstrationen z. B. bei PEGIDA in der Mitte der Gesellschaft.

Diese Mobilisierung gelingt dabei in sehr unterschiedlichen Regionen mit in sich widersprüchlichen Begründungen. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen: In ökonomisch wohlhabenen Gegenden z. B. in Baden Württemberg spielt die Angst vor Wohlstandsverlust eine tragende Rolle bei der Wahl der AfD. Befürchtet werden z. B. Wertverluste von Immobilien, eine Qualitätsschwächung der Schulen durch Zuzüge oder auch die Zunahme von Kriminalität. Hier bedient die AfD vor allem einen ausgeprägten Wohlstandschauvinismus.

In Teilen Ostdeutschlands ist das etwas anders. Kenner der Regionen wie der Kriminologe Bernd Wagner warnen seit zwanzig Jahren vor einem verfestigten völkischen Block in der ostdeutschen Alltagskultur. Bis heute sind weite Teile Ostdeutschlands vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Raum weitgehend Migrationsfrei geblieben. Eine gelebte Alltagskultur mit Vielfalt und Differenz gibt es dort nicht und alleine die Vorstellung davon, dass es so wie westdeutschen Großstädten werden könnte, löst vielfach geballte Ängste und Aggressionen aus. Hier zeigt sich die AfD als Partei der Konservierung dieser Zustände und betont ihre rechtspopulistische Seite.

In beiden Beispielen gelingt es den großen Volksparteien – im Osten kommt noch die Linke dazu – nicht mehr, diese driftenden Bevölkerungsteile für sich zu gewinnen und – ohne ihnen nach dem Munde zu reden – ins demokratische System zu integrieren. Sie erleben einen rasanten Vertrauensverlust, in dessen Lücke die AfD erfolgreich vorstößt und diese füllt. In beiden Beispielen fühlen sich wesentliche Teile der Bevölkerung von den bisherigen Repräsentanten nicht mehr vertreten und in der AfD finden sie schon im Titel eine sie ansprechende Alternative, ohne dabei in den Ruf von „Nazis“ oder „Rechtsextremisten“ zu kommen.

Diese Radikalisierung in der Mitte spornt wiederum den bewegungsförmigen Rechtsextremismus an. Deren Vertreter fühlen sich selbst oft als mutige „Vertreter des Volkes“, die umsetzen, was die anderen nur zu denken wagen. Über eintausend Anschläge und Straftaten auf Flüchtlingsunterkünfte zählte das Bundeskriminalamt im Jahr 2015. Viele Täter konnten bisher nicht ermittelt werden. Gelang es, zeigten sich die Fahnder oft überrascht, da viele Tatverdächtige nicht zum harten Kern der örtlichen Rechtsextremisten zu gehören schienen. Wir erleben somit eine zweite Radikalisierung am rechten Rand mit neuem Terror und einem Mehr an Gewalt – stimmungsmäßig getragen von der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft.

Ob sich diese Tendenz nachhaltig festsetzt oder nur eine Momentaufnahme in der Krise ist, muss derzeit offen bleibt. Auf jeden Fall legt sie Schwächen der demokratischen Akteure offen, deren Ursache tiefer liegen als in den Unsicherheiten bei der Bewältigung der Flüchtlingszuwanderung. Sie sind vielmehr Ausdruck einer grundsätzlichen Demokratiekrise und eben nicht einer Flüchtlingskrise. Eine Antwort der Deradikalisierung kann sich somit auch nicht nur mit einem „Gegen“ die rechten Hetzer und Gewalttäter zufriedengeben. Sie müssen vielmehr an einem Entwurf der Demokratieentwicklung arbeiten, der wieder mehr Menschen neu zur Teilhabe motiviert, alle gesellschaftlichen Milieus repräsentiert und dem man die Bewältigung von Krisen wie der Gestaltung der Zukunftsfragen der Gesellschaft auch tatsächlich zutraut. Gelingt dieses nicht, ist eine dauerhafte Etablierung eines rechtspopulistischen Blocks in Politik und Gesellschaft in Verbindung mit rechtsextremer Gewalt wahrscheinlich.