Die Gaste, SAYI: 8 / Temmuz-Aðustos 2009

Migration = Halbbildung?
Kritische Gedanken zur Bildungspolitik im Kontext der Migration
Göç=Yarým Eðitim? I – Göç Baðlamlý Eðitim Politikasýna Yönelik Eleþtirel Düþünceler
Göç=Yarým Eðitim? II – Göç Baðlamlý Eðitim Politikasýna Yönelik Eleþtirel Düþünceler


Prof. Dr. Gazi ÇAÐLAR
Professor für Soziale Arbeit an der HAWK –
Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit Hildesheim



Ich finde es jedoch angesichts der Dramatik der Lage unangebracht, die Erfolge derjenigen als „gelungene Integrationsbeispiele“ zu feiern, die den sogenannten Aufstieg geschafft haben und die, von Schulte „Mixbürger“ genannt, es selbstverständlich auch vielerorts gibt.

Stellen wir uns einmal vor, wir würden in einem Land leben, in dem eine Migrantin von einem hochrangigen Mitarbeiter einer Universität angerufen wird, der ihr einen Studienplatz schmackhaft zu machen versucht. Zur Erleichterung ihrer Wahl der Universität würde er ihr ein üppiges Stipendium sowie einen „Besuch an der Universität samt Gratisflug“ anbieten. Die Migrantin würde vor allem wegen ihrer Herkunft und ihrer sozialen Formation angerufen werden: Weil sie in einer „Brennpunktschule“ und unter schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen ist. „Unterschicht, nichtweiß und intelligent“ – diese drei Attribute würden die Bewerberin zu einer „perfekten Kandidatin für die Spitzenuniversitäten“ des Landes machen.

Stellen wir uns weiter vor, die Universitäten in diesem Land würden gerade an den Schulen mit einem hohen migrantischen Anteil Werbekampagnen organisieren, Stipendien anbieten und den hohen Anteil von Professoren mit Migrationshintergrund als ihre Stärke in dem Wettbewerb um migrantische Studierende betonen. Und stellen wir uns vor, dass eine weiße Studierende nach einem Besuch an einer Universität das Studium dort mit der Begründung ablehnen würde: „Als Weiße wollte ich keine Universität, wo ich nur hauptsächlich unter Weißen bin. Da hätte ich mich nicht wohlgefühlt.“

Dies ist nicht bloß eine Vorstellung. In den USA ist es eine ganz reale Entwicklung, weil dort die Universitäten inzwischen ihren Ruf dadurch modernisieren, dass sie Diversität fördern und Minderheiten besondere Unterstützung zukommen lassen. Auch die sogenannte Elite-Universität Harvard bemüht sich ernsthaft, über Werbung in Schulen und Kooperationen mit Sozialarbeitern mehr Bewerber aus den schwarzen und hispanic-Familien zu bekommen. Ich muss nicht betonen, dass auch in den USA nach wie vor ethnische und Klassenunterschiede über Karrieren entscheiden. Gerade vor diesem Hintergrund ist es aber für das Bildungssystem wichtig, der massenhaften Zerstörung von Lebenschancen aufgrund der Herkunft entgegenzuwirken.

Schauen wir uns hingegen Deutschland an, haben wir ein nicht leichtfertig zu verschönerndes, düsteres Bild. Ich möchte zunächst einmal dieses Bild, dessen Puzzleteile u. a. im letzten Nationalen Bildungsbericht gezeichnet werden, in Form einer unsystematischen Bestandsaufnahme festhalten. Welchen Bereich der Bildungs- und Ausbildungslandschaft wir uns auch anschauen, stellen wir dabei vor dem Hintergrund der langen Migrationsgeschichte Enttäuschendes fest, welches vor allem den riesigen Handlungsdruck verdeutlicht, der notwendig ist, wenn in diesem Land Bildung vor allem ein Menschenrecht sein soll.

Für die Zahlen, die ich nennen werde, ist zunächst einmal festzustellen, dass sie abhängig von der politischen und wissenschaftlichen Herangehensweise an die Migration im Laufe der Zeit variieren. Hat man lange Zeit zwischen Deutschen und Ausländern bei statistischen Erhebungen unterschieden (also nach Staatsbürgerschaft) und damit die gesellschaftliche Realität der Migration nicht einmal annähernd abgebildet, wurden erstmalig mit dem Mikrozensusgesetz 2005 neue Möglichkeiten geschaffen, um genauere statistische Erhebungen durchzuführen. Dass Statistiken für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden können, z. B. Menschen langfristig „identifizierbar“ machen können, geht aus der Aussage des Statistischen Bundesamtes eindeutig hervor, wonach es „wünschenswert“ sei, „wo immer möglich jene Personengruppen identifizierbar zu halten, die seit jeher in der amtlichen Statistik mit Bezug auf Migration assoziiert werden wie Z. B. Ausländer, eingebürgerte, Vertriebene, Aussiedler, Spätaussiedler oder Asylbewerber.“ Wenn irgendwann sich die Einsicht durchsetzen sollte, dass die Migration eine welthistorische Normalität ist, also auch die nationalstaatlich zusammengefassten Bürger historisches Ergebnis früherer Migrationsgeschichten sind, könnte es durchaus sein, dass Deutschland in einem Aha-Erlebnis den Migrationshintergrund der gesamten Bevölkerung entdeckt. Dann wären die Zahlen wiederum ganz andere. Aber wir sind zunächst ziemlich weit von diesem Aha-Erlebnis…

Migration und Bildung in Deutschland

Schauen wir uns zunächst die Zahlen von Menschen mit Migrationshintergrund an, auch wenn diese Zahlen vielfach bekannt sind:

Nach der Auswertung durch das Statistische Bundesamt lebten 2005 15,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, darunter ca. 7,3 Millionen Menschen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft. Am höchsten ist ihr Anteil an der Bevölkerung in Großstädten, der bis zu 40 % reicht. Unter den heute 8jährigen liegt dieser Anteil in sechs Großstädten bei über 60 %; ihr Anteil unter allen Kindern liegt bei einem Drittel, was uns zeigt, dass wir hier nicht mehr über eine kleine Minderheit sprechen, sondern über einen großen integralen Bestandteil der Gesellschaft.

Wenn wir die Herkunftsländer mal beiseite lassen, weil das für unsere Zwecke zu weit führen würde, sind noch die Beschäftigungs-, Arbeitslosigkeits- und Armutssituation vielleicht wichtig, weil sie über die soziale Lage etwas aussagen, in der diese Kinder und Jugendlichen größtenteils leben:

Die Menschen mit Migrationshintergrund im Alter von 25 bis 65 Jahren sind seltener erwerbstätig als die ohne Migrationshintergrund (62% gegenüber 73%), sie sind häufiger arbeitslos (13% gegenüber 7,5%), in manchen Städten drei bis viermal so häufig, und stehen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung (25% gegenüber 19,5%). Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind doppelt so häufig als Arbeiter tätig (48,5% gegenüber 24%), Angestellte und Beamte sind recht selten. Sie üben ihre Tätigkeit vor allem im Produzierenden Gewerbe sowie im Handel und Gastgewerbe aus, ein Strukturmerkmal, was sich im Laufe der Migrationsgeschichte über Generationen hinweg durchhält.

Auch die Zahlen zur Armutssituation sind erschreckend, obwohl die Armutsgrenze mit ca. 800 € so knapp bemessen ist, dass sie die tatsächliche Realität von Armut in unserer Gesellschaft kaum widergibt: Im Vergleich des Nettoäquivalenzeinkommens erreicht die Bevölkerung mit Migrationshintergrund lediglich 79 % des Durchschnittwertes der Gesamtbevölkerung. Nur 14 % erreicht ein Einkommen über 2.000 €, 45 % lediglich ein Einkommen bis 1.100 €. Das Risiko, einkommensarm zu sein, haben 12 % der Menschen ohne Migrationshintergrund, aber über 28 % der Personen mit Migrationshintergrund. Die Armutsrisikoquote bei Kindern mit Migrationshintergrund unter 15 Jahren liegt bei ca. 33 %, ohne Migrationshintergrund bei ca. 13 %. Auch ab 65 Jahren ist diese Quote dreifach so hoch (27,1 % gegenüber 9,7 %).

Wie sieht es im Bereich von Schule und Ausbildung aus, die zentralen Bereiche, durch die Aufstiegschancen in der modernen spätkapitalistischen Gesellschaft verteilt werden, wenn man von „Aufstieg“ sprechen darf, wenn es doch lediglich um menschenwürdiges Leben mit Arbeit geht? In Bezug auf die allgemeine Bildungslandschaft lauten die Diagnosen vielfach „Bildungskrise“ oder „Bildungsmisere“. In Bezug auf de migrantische Bevölkerung müssen wir von einer politisch produzierten Bildungskatastrophe sprechen: Im Vergleich zu den Deutschen ohne Migrationshintergrund weist die migrantische Bevölkerung sowohl bei allgemeinen Schul- als auch Berufsabschlüssen insgesamt ein recht niedriges Bildungsniveau aus. Unter 25-35jährigen haben 41 % mit Migrationshintergrund keinen beruflichen Abschluss, bei Deutschen ohne Migrationshintergrund beträgt dieser Wert lediglich 15 %. Vor allem Menschen Türkei-Hintergrund verfügen über das niedrigste Qualifikationsniveau. Die zweite und dritte Generation ist in Deutschland aufgewachsen. Auch bei ihnen sind die Unterschiede gravierend: Die Zahl der Menschen ohne Berufsabschlüsse in der Gruppe der über 25jährigen ist doppelt so hoch.

Über 80 % der „ausländischen“ Kinder besuchen den Kindergarten, damit sind sie dicht dran an den deutschen Kindern. Über 90 % von ihnen sind hier geboren. Fast die Hälfte aller ausländischen Schüler (40,5 %) besucht die Hauptschule, während nur 14,8 % der deutschen Schüler auf der Hauptschule sind. Sie sind auf der Realschule leicht und auf dem Gymnasium stark unterrepräsentiert (21,2 % gegenüber 44,7 % deutschen Schülern). Bei Schülern mit Türkei- oder italienischem Hintergrund geht der Anteil auf dem Gymnasium sogar auf 13,2 % zurück. Der Anteil der ausländischen Schüler ohne Schulabschluss ist mehr als doppelt so groß wie bei Deutschen (17,5 % zu 7,2 %). Ihr Anteil an Sonderschulen unterschiedlicher Form ist skandalös hoch. Bezogen auf die Hochschulbildung nimmt die Bildungsbeteiligung von sogenannten Bildungsinländern weiter drastisch ab: Lediglich 3 % der 20-30jährigen besuchen eine Hochschule, wobei die Abbrecherquote wiederum relativ hoch ist. Die unbefriedigende Lage setzt sich auch im Bereich von Weiterbildung und Fortbildung fort. In Bezug auf Erwachsenenbildung liegen kaum Zahlen vor, weil dort recht wenig angekommen ist, dass die Bildungsinstitutionen auch mehrsprachige Angebote vor allem zur politischen Bildung entwickeln und anbieten müssen, zumal sie doch u. a. auch aus den Steuern und Abgaben der migrantischen Bevölkerung bezahlt werden.

Es gibt bis heute kein vereinfachtes Verfahren zur Anerkennung von mitgebrachten Qualifikationen aus dem Herkunftsland. Dabei gehen Schätzungen von mindestens 5 bis 10 % Akademikern unter den Spätaussiedlern und von mehr als 20 % Akademikern aus dem Bereich der Flüchtlinge aus, deren Kompetenzen ungefragt bleiben. Für die jüdischen Migranten wird sogar von 70 % ausgegangen. Kleine begrüßenswerte Schritte zur Förderung dieser Personengruppen gibt es inzwischen, z. B. an der Universität Oldenburg. Der Nationale Integrationsplan kündigte bereits ein Konzept zu Anerkennungsverfahren von mitgebrachten Bildungs- und Berufsqualifikationen an.

Genug der Zahlen: Sie sind tatsächlich düster genug. Wir sollten aber festhalten: Egal wohin wir schauen, in welchen offiziellen und wissenschaftlichen Bericht, ob in Arbeitslosenstatistiken, ob in Armutsbericht oder Bildungsbericht, haben wir es mit einer schreienden Ungerechtigkeit zu tun: Einmal vorausgesetzt, dass es nun mal in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Ungleichheit als Strukturmerkmal zwingend notwendig sei, sind aber die Menschen mit Migrationshintergrund überall von Ungleichheit in übermäßigen Größenordnungen betroffen: Vielfach weit mehr als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.

Um gleich einem Einwand zu begegnen: Selbstverständlich sind diese Menschen keine homogene Gruppe. So wie sie in ihren Religionen und Religionslosigkeit, in ihren Kulturen und politischen Meinungen eine Vielfalt bilden, sind auch die Unterschiede im Bereich der Bildung und Ausbildung sowohl nach Herkunftsländern als auch nach Geschlecht wie sozialer Lage kaum zu übersehen. Ich finde es jedoch angesichts der Dramatik der Lage unangebracht, die Erfolge derjenigen als „gelungene Integrationsbeispiele“ zu feiern, die den sogenannten Aufstieg geschafft haben und die, von Schulte „Mixbürger“ genannt, es selbstverständlich auch vielerorts gibt. Dass mancher Aufstieg gelingt, ist ja auch kein Wunder in einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft mit ihrem Versprechen vermeintlich herkunftsunabhängiger gleicher Chancen. Im Vergleich zur feudalen Gesellschaft, in der die Herkunft ein für allemal entscheidend war, sind wir tatsächlich weiter. Aber dass Ethnoclass-Dasein in dem Ausmaß in Deutschland sozial vererbt wird und sich über migrantische Generationen hinweg hartnäckig erhält, zeigt, wie wenig wir von den traditionellen Prinzipien feudaler Gesellschaft entfernt sind. Übrigens wäre es mal eine Untersuchung wert, wie viel Feudalismus sich noch in der Geschichte der deutschen Ausländerpolitik erhalten hat. Hierher würde sicherlich gehören, dass im demokratischen Deutschland bis heute massenhaft Menschen sterben, die noch nie in ihrem Leben eine Wahlurne aus der Nähe gesehen haben. Diese die Legitimationsgrundlagen von Demokratie unmittelbar und in ihrem Kern betreffende Tatsache wird seit dem Ausländerwahlrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichtes kaum noch ernsthaft diskutiert. Sie wird viel mehr totgeschwiegen. Hierher würde auch gehören, wie lange sich Deutschland erlaubt hat und weiterhin erlaubt, über die Köpfe der Betroffenen hinweg und ohne ihre jegliche Legitimierung zu entscheiden. Bis hin zu der Tatsache, dass die in Integrationsbeauftragte umbenannten Ausländerbeauftragten in ihrer übergroßen Mehrheit Deutsche waren und bis heute sind, fast so, wie wenn man aus Männern Frauenbeauftragte machen würde. Auch dies ist ein kleiner symbolischer Ausdruck einer paternalistischen Vormundschaftsmentalität, die eher feudalen als modernen Gesellschaften angemessen wäre, wenn man die Versprechen moderner Gesellschaften ernstnehmen dürfte.

Ursachen der migrantischen Bildungskatastrophe

Wenn wir über wissenschaftlich gesicherte und nicht gesicherte Ursachen dieser Bildungsmisere nachdenken, müssen wir sicherlich bei der Gesellschaft, dem Staat und seiner Ausländer- bzw., wie es seit kurzem heißt, Zuwanderungs- und Integrationspolitik anfangen. Denn Bildung findet in der Gesellschaft und von gesellschaftlichen Wesen für gesellschaftliche Wesen statt. Ohne an dieser Stelle genauer darauf eingehen zu können, müssen wir der gesamtgesellschaftlichen Politik eine tiefe Ignoranz gegenüber Migration und ihren sozialen Folgen attestieren, die etwa bis zur Jahrtausendwende hartnäckig und systematisch fortgesetzt wurde. Diese Ignoranz, die sich in der Tirade ausgedrückt hat, Deutschland sei kein Einwanderungsland, hat der Migrationsforscher Bade als die „Lebenslüge“ Deutschlands bezeichnet.

Seither gibt es einige kleine Schritte in die richtige Richtung, wenngleich sie von manchen Innenpolitikern beschönigend als „Jahrhundertwende“ verkauft wurden. Im wesentlichen sind es meiner Ansicht nach drei: Die Lockerung der völkisch bestimmten Staatsbürgerschaftsregelung, die Kindern von seit 8 Jahren „rechtmäßig“ in Deutschland lebenden Eltern die deutsche Staatsbürgerschaft ermöglicht, wenngleich seither die Einbürgerungszahlen drastisch zurückgegangen sind (von ca. 187000 im Jahre 2000 auf 113000 2007), für die die Ambivalenzen dieser Regelung verantwortlich sind. Zweitens die Aufnahme des Integrationsbegriffes in das Gesetz zur Begrenzung und Steuerung von Zuwanderung, wenngleich darin in wichtigen Bereichen die bisherigen ausländerpolitischen Grundsätze weiterhin festgeschrieben sind. Und zuletzt die Antidiskriminierungsaspekte des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes, die nach langem Druck der EU zustande kamen, wobei hiervon bisher vor allem deutsche Piloten und Ärzte und andere Berufsgruppen zu profitieren scheinen.

Es gibt aber auch im gleichen Zeitraum massive regressive Entwicklungen:

  • Das migrationspolitische Klima in Deutschland ist enorm ideologisch aufgeladen und mit einer Reihe von Diskursen mit politischen und ideologischen Zwecksetzungen ohne eine gehaltvolle wissenschaftliche Basis und nennenswerte Demokratisierungsfortschritte für neue unsichtbare Grenzziehungen vorbereitet worden. Ob die Parallelgesellschaftsdebatte oder der Kopftuchstreit, ob Zwangsheiratsdebatte, die vielen Menschen mit Migrationshintergrund und Kulturen unter Umgehung des fundamentalen Unterschieds von Zwangsheirat und arrangierter Ehe vielfach unterstellt hat, sie würden nicht gegen Zwangsheirat sein, oder die Debatte zum islamistischen Terror, in der seit dem 11. September eine Atmosphäre allgemeiner Angst unter den Menschen muslimischen Glaubens und pauschaler Verdächtigungen entstanden ist, die zu einem Anstieg der Menschenfeindlichkeit gegenüber Muslimen geführt hat, ob die Debatte zur Kriminalität migrantischer Jugendlichen, die zu berühmten Wahlkämpfen instrumentalisiert wurden – alle diese Diskurse weisen mehrheitlich bestimmte strukturelle Gemeinsamkeiten auf: Skandalisierung, Kulturalisierung, kollektive Schuldzuweisung, Verdächtigung, unterschwellige bis offene Drohung. Selten bis gar nicht wird untersucht, wie diese Debatten auf das migrantische Wohlbefinden in Deutschland wirken. Dass sie das Gefühl der Ohnmacht und Zurückweisung verstärkt haben, dürfte mit Sicherheit kein überraschendes Ergebnis bei möglichen Studien sein. Diese Diskurse sind weitgehend möglich, weil in diesen herrschenden Debatten migrantische Sicht- und Lebensweisen kaum bis keine Artikulation finden. Sie erfahren keine Anerkennung und auch keine soziale, kulturelle und individuelle Wertschätzung. Diese Diskurse bezeugen keine natürliche Grenze, sondern die so gezogenen Grenzen sind beabsichtigte Effekte.
  • Flankiert von diesen Diskursen, die vielfach im Gleichton „Multikulti“ und „falsche Toleranz“ beklagt haben, ist der politische und rechtliche Druck auf die Menschen mit Migrationshintergrund in Richtung einer Anpassung an die sogenannte abendländisch-christliche Kultur bzw. die deutsche Kultur und Staatsordnung gesteigert worden, vielfach ohne die nötige Unterscheidung zwischen einer Identifikation mit der republikanischen Verfassungsordnung und einer allgemeinen kulturellen Anpassung. Die Einführung bundesweiter Einbürgerungstests, die Verpflichtung zu Sprachprüfungen für die Visaerteilung z. B. bei Familienzusammenführungen ist sicherlich von einem großen Teil der migrantischen Bevölkerung als Steigerung des Drucks und Verschlechterung ihrer Lage empfunden worden.
  • Im gleichen Zeitraum haben die rassistischen Übergriffe und Diskriminierungen in der Gesellschaft zugenommen. Der Anti-Rassismus-Ausschuss der UNO hat im August 2008 den deutschen Länderbericht mit dem Vorwurf zurückgewiesen, auf einem „veralteten Verständnis“ von Rassismus zu basieren, der den Rassismus auf Rechtsradikalismus reduziere. In Deutschland sei der Rassismus kein Randproblem, wie der Länderbericht impliziere, sondern ein allgemein gesellschaftliches, von dem vor allem Juden, Muslime, Sinti und Roma sowie afrikanische Asylbewerber betroffen sind. Auch hier haben wir kaum Studien vorliegen, die die sozialpsychologischen Folgen von rassistischen Übergriffen in den migrantischen Milieus untersuchen.
  • In einem solchen gesellschaftlichen Klima hat man auch bei einem Großteil der Debatten zum Bildungsbereich den Eindruck, dass für alle sozialen Mißstände, die in der deutschen Migrationsgeschichte angehäuft wurden, die Migrantinnen und Migranten selbst verantwortlich gemacht werden: Sie haben sich nicht angepasst, sie haben die Sprache nicht gelernt und ihren Kindern nicht beigebracht, sie haben sozusagen eine falsche, weil abweichende Kultur, sie haben unannehmbare Erziehungsvorstellungen, sie haben sich abgeschlossen und nicht integriert. Sie unterdrücken die Frauen und erziehen ihre Söhne zu halbstarken Paschas. Für diesen vorherrschenden Diskurs, der an dramatischer Pointierung an nichts fehlen lässt, sind inzwischen auch einige selbsternannte Experten, vornehmlich aber Expertinnen mit Migrationshintergrund und ausgesprochenem Repräsentationsanspruch angeheuert, deren Büchereinnahmen einem Sechser in der Lottoziehung entsprechen. Ihre Stimme scheint der vorherrschenden Dominanzkultur Legitimation zu verschaffen. Was dabei völlig verloren geht, ist die reichhaltige Sprache der gesellschaftlichen Wirklichkeiten, dass es z. B. nicht nur keine deutsche Kultur als homogene existiert, sondern auch keine türkische oder kurdische, die z. B. Zwangsheirat gutheißt.

In der bisherigen ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Forschung werden für die desolate Bildungssituation Ursachen skizziert, die ich in eigener Deutung als Kennzeichen des Schul- und Bildungssystems stichwortartig benennen möchte: Bildungssystem als kulturelles Identifizierungs- und soziales Kategorisierungssetting, Bildungssystem als soziales und ethnisches Selektionssystem und mit Homogenisierungseffekten, Bildungssystem als ethnische Konstruktions- und Zuschreibungsmaschinerie, Bildungssystem als Legitimationsmaschinerie für gesellschaftliche Machtverhältnisse, Bildungssystem als standardisierte Produktion von Hierarchisierung und Verteilung von Lebenschancen unter Bedingungen zunehmender sozialer Ungleichheit und Prekarisierungsgefahren. Mir ist bewusst, dass alle diese Stichworte einer gesonderten Diskussion und in ihrem thesenhaften Charakter einer Begründung bedürfen, die nicht hier geleistet werden kann. Ich denke aber, dass wir in einer zunehmend globaler werdenden Welt mit enormen Verflechtungen anfangen müssen, an eine Entnationalisierung des Schul- und Bildungssystems zu denken, die nach der kritischen Überarbeitung und Überwindung seiner nationalen Überladung am Ende gewährleisten muss, dass unabhängig von Herkunft alle eine Bildung genießen, die sie für die globale Welt kompetent macht und die heute zutage nicht nur für migrantische Lernende entscheidend ist. Dazu ist sicherlich eine andere Schul- und Bildungspolitik notwendig, die auch Mehrsprachigkeit ernst nimmt. Die vielfach mit Wissen verbündete Macht der kulturellen und ethnischen Konstruktionen ist Effekt einer realen materiellen Herrschaft über die etno-class. Wir brauchen Strategien von unten, die die unsägliche Reproduktionsmaschinerie der Ethnisierung unterläuft und Wege zu einer gerechteren humanen Gesellschaft aufzeigt. Hier sind vor allem Menschen und Eltern mit Migrationshintergrund gefordert, denn wer sollte sonst für die Zukunftsinteressen von so kleinen Wesen eintreten, wenn nicht sie.

Perspektiven

Der Nationale Bildungsbericht 2008 fordert „differenzierte bildungspolitische Strategien“, um für die Gesellschaft die „Potenziale zu entwickeln und zu nutzen, welche die Migration eröffnet“. Überall geht es um „Nutzen“, vor allem, wenn es um die migrantische Bevölkerung geht. Selbst die Wissenschaft schreckt in Bezug auf die migrantische Bevölkerung nicht vor den Konnotationen und historischen Überladungen des „Nutzens“ von Menschen. Auch in den sogenannten Diversity-Managment-Ansätzen geht es vielfach um die allseitige Mobilisierung des „Humankapitals“, das unter den schillernden Begriffen „Vielfalt als Chance“ und „Diversität als Ressource“ verfügbar gemacht werden soll. Ein kritisches Verständnis von Diversity als sozialer Vielfalt muss der Gefahr widerstehen, Menschen und Kulturen auf messbare und mobilisierbare ökonomische Ressourcen zu reduzieren, und darf das Ziel sozialer Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren. Die Logik der vorherrschenden Ökonomie unterscheidet sich gravierend von der Logik des Sozialen. Die Anerkennung und Förderung von Verschiedenheit und Vielfalt macht nur Sinn im Zusammenhang mit dem Ziel der sozialen und politischen Gleichberechtigung. Jenseits von Nutzen-Denken und unter Zurückweisung der Reduzierung der Bildung auf ökonomische Funktionen müssen wir daran festhalten, dass Bildung vor allem und zuallererst ein Menschenrecht ist.

Gegen die „Gewalt der Ökonomie“, die von neoliberalen Hohe Priestern des Marktfundamentalismus bis zum aktuellen Waterloo im Finanzsektor lauthals verdeckt wurde und die kaum Demokratie kennt, brauchen wir eine Demokratisierung der Wirtschaft, die die grundgesetzlich verbriefte Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums garantieren kann. Und Gemeinwohl muss auch Wohl und Wehe von Menschen mit Migrationshintergrund beinhalten, so dass wir begleitend zu einer demokratischen Gleichstellungspolitik auch aktive Arbeitsmarkt- und Bildungsprogramme für Menschen mit Migrationshintergrund brauchen, die den Namen verdienen. Die massenhafte Kumulation von sozialen und bildungspolitischen Risikolagen macht solche Programme, für die es genug wissenschaftliche Vorarbeit gibt, höchst dringlich.

Wenn die soziale, kulturelle oder ethnische Herkunft keine Rolle mehr bei der menschenwürdigen Gestaltung des Lebens spielen wird, werden wir eine gerechte Bildungs- und Schulpolitik haben. Die sind aber nicht unabhängig von der Bemühung um gesamtgesellschaftliche Humanisierung und Demokratisierung. Je mehr Menschen mit Migrationshintergrund mit ihren spezifischen Forderungen sich in diese gesamtgesellschaftliche Bemühung einbringen, desto höher werden die Chancen dafür sein. Eine historische Lehre dürfen wir nicht vergessen: Jeder gesamtgesellschaftliche Fortschritt, jede Verbesserung auch für die Mehrheiten ist in ihrem Ursprung mal eine Forderung und ein Kampf von Minderheiten gewesen. Ich habe mit den USA angefangen – um auch mit den USA zu schließen: der symbolische Erfolg, der in Obamas Präsidentschaft in den USA aus der Sicht vieler Menschen weltweit verbunden ist, ist vor allererst ein Ergebnis langwieriger Kämpfe von Minderheiten, unabhängig davon, was Obama daraus macht.

Fußnote:

1 Martin Spiewak, Mit Multikulti zur Elite, in: Die Zeit, Nr. 47, 13.11.2008, S. 56
2 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2008, 2008, Kursivstellung d. Autor. Dass das Ausländerzentralregister mit weit über 25 Millionen personenbezogenen Daten und mit Zugriffsrechten für weit mehr als 6000 Behörden auf diese immense Datenbank datenrechtlich bis heute bedenklich ist, gehört an dieser Stelle nicht zum Gegenstandbereich (vgl. Thilo Weichert, Kommentar zum Ausländerzentralregistergesetz, Neuwied 2001).
3 http://www.destatis.de/ jetspeed/portal/ cms/ Sites/ destatis/Internet/DE/Presse/pm/ 2007/ 05/PD07__183__12521.psml, Zugriff am 14.11.08
4 Vgl. a.a.O.
5 Vgl. Dritter Armutsbericht der Bundesregierung: http://www.bmas.de/ coremedia/ generator/ 26742/ property=pdf/ dritter__ armuts__und__ reichtumsbericht.pdf
6 Zahlen und Zitate aus: Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildungsbericht 2008. H. Migration: http://www.bildungsbericht.de/ daten/ h_web.pdf
7 Vgl. Ingrid Wilkens, Migration, Bildung und Beschäftigung – Die Situation in Deutschland, in: Migration und Soziale Arbeit, H. 3/4-2008, S. 172-179
8 Vgl. Anwar Hadeed: Sehr gut ausgebildet und doch arbeitslos. Zur Lage höher qualifizierter Flüchtlinge in Niedersachsen, Oldenburg 2004 sowie Dagmar Maur, Das Akademikerprogramm der Otto-Benecke-Stiftung, in: Otto Benecke Stiftung (Hg.), Qualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer erfolgreich integrieren, St. Augustin 2005, S. 5; Peter Kühne / Harald Rüßler, Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland, Frankfurt 2000, S.320; Sonja Haug, Jüdische Zuwanderer in Deutschland, Nürnberg 2005, S. 3
9 Vgl. Rolf Meinhardt, Wider den Brain Waste: Studiengänge für hochqualifizierte Einwanderer an der Universität Oldenburg, in: Migration und Soziale Arbeit, Heft ¾ - 2008, S. 230-236
10 Vgl. Bundesregierung (Hg.), Der Nationale Integrationsplan, Berlin 2007
11 Siehe hierzu z. B. Rainer Schulte, Bildungsaufstieg gegen Ressentiments. Eine empirische Untersuchung zu den Kompetenzen von Studierenden mit Migrationshintergrund Türkei, in: Soziale Arbeit und Migration, Heft 3 /4 – 2008, S. 206-213
12 Vgl. Klaus J. Bade u. a., Migrationsreport 2004, Campus Verlag
13 Vgl. http://www.bmi.bund.de/cln_012/nn_164920/ Internet/ Content/ Themen/ Staatsangehoerigkeit/ DatenundFakten/ Einbuergerungsstatistik.html
14 Vgl. Banu Banbal, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Der Diskriminierungsschutz in der Arbeitswelt. Eine kritische Würdigung aus der Perspektive der Antidiskriminierungsberatung, in: Soziale Arbeit und Migration, Heft 3/4 – 2008, S. 268-274
15 Vgl. Gazi Caglar, Scheinheilige Debatte: Parallelwelten, in: Starke Eltern –Starke Kinder, Ausgabe 2006, S. 140-143
16 Vgl. Heide Oestreich, Das Abendland und ein Quadratmeter Islam: Der Kopftuchstreit, Frankfurt am Main 2004
17 Siehe zum Unterschied Gaby Straßburger, Arrangierte Ehe: arrangiertes (Un-)Glück? Freie Partnerwahl bei arrangierten Ehen, in: Migration und Soziale Arbeit, H. 1 -2006, S. 54-60
18 Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 1-6, Frankfurt am Main 2002-2007
19 Vgl. Hauke Friederichs, Deutscher in drei Minuten, in: Die Zeit, 6.11.2008, s. 23
20 Vgl. Nissrine Messaoudi, UNO kritisert Deutschland. Länderbericht spiegelt nicht realen Rassismus wider, in: Neues Deutschland, 16.8.2008
21 Siehe zu diesen Zusammenhängen: G. Auernheimer (Hg.), Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder, Opladen 2003; die IGLU-Ergebnisse auf: http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/ IGLU/home.htm; Deutsches PISA-Konsortium (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001 ; vgl. zu den aktuellen Ergebnissen der Pisa-Studie, die 2008 veröffentlicht wurden und die Bildungsmisere für migrantische Schüler nochmals betonen: http://www.oecd.org/ document/ 37/0,3343,de_ 34968570_34968855_39066085_1_1_1_1,00.html; M. Gomolla / F.-O. Radtke, Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen 2002; G. Lenhardt, Ethnische Quotierung und Gerechtigkeit im Bildungssystem, in: D. Kiesel u. a. (Hg.), Die Erfindung der Fremdheit, Frankfurt am Main 1999
22 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildungsbericht 2008. H. Migration: http://www.bildungsbericht.de/daten/h_web.pdf
23 Vgl. Hubertus Schröer, Vielfalt gestalten. Kann Soziale Arbeit von Diversity-Konzepten lernen, in: Soziale Arbeit und Migration, Heft 1 -2006, S. 60-68
24 Oskar Negt, Die Gewalt der Ökonomie, in: Neue Gesellschaft, Nr. 11/2008, S. 62-65